Der Mythos vom Ende der Arbeit (1): Studien und Medienecho
Die Drohkulisse ist gewaltig: Millionen Jobs scheinen durch die Digitalisierung bedroht. Regelmäßig geistern neue, vermeintlich wissenschaftlich belegte Horrorszenarien durch die Medien, die sich bei genauerer Betrachtung aber zumeist als reine Spekulation oder Falschmeldung herausstellen. Anstatt über eine großflächige Jobvernichtung zu sinnieren, sollten Politik und Unternehmen besser darüber nachdenken, wie sich die notwendigen Jobveränderungen gestalten lassen.
Führt Digitalisierung zu Jobvernichtung oder zu Jobveränderung?
Den ausschlaggebenden Impuls für die Arbeit an dieser zweiteiligen Beitragsserie lieferte mir ein auf LinkedIn veröffentlichtes Interview des Wirtschaftspublizisten Gunnar Sohn mit Dr. Lars Schatilow, Associate Partner und Practice Lead bei IBM DACH im Vorfeld des IBM Automation Summit. Dem Gespräch lag der Gedanke zugrunde, dass es bei der Automation im Zuge des KI-Einsatzes nicht vorwiegend um Jobabbau, sondern vielmehr um Jobveränderung geht.
Ist dem so? Ich selbst fühlte mich bei dieser Frage in den letzten Jahren hin- und hergerissen. Auf der einen Seite kursieren in den Medien regelmäßig Meldungen über eine durch die Digitalisierung anstehende Jobvernichtung. Selbst Autoren wie Yuval Noah Harari oder Richard David Precht, die ich beide sehr schätze, gehen in ihren aktuellen Werken von einem großflächigen Jobsterben aus. In diesem Zusammenhang könne eine neue Klasse der „nutzlosen Menschen“ (Harari) entstehen beziehungsweise erscheine ein bedingungsloses Grundeinkommen unausweichlich (Precht). Auf der anderen Seite zeigen sich viele Praktiker und Experten, mit denen ich mich zuletzt im Rahmen meiner Studienarbeit austauschte, in diesem Punkt deutlich skeptischer.
Grund genug also, diese Frage genauer zu beleuchten. Mein Fazit aus der Recherche lässt sich unschwer an der Überschrift ablesen: Ja, ich halte die großflächige Jobvernichtung durch Digitalisierung mittlerweile für einen Mythos. Im nachfolgenden ersten Teil der Beitragsreihe möchte ich anhand relevanter Studienergebnisse und deren Resonanz in den Medien aufzeigen, wie ich zu diesem Schluss gelangte. (In dem sich daran anschließenden Beitrag werden die Einschätzungen von Praktikern zu dieser Frage in den Fokus gerückt.)
Die These vom „Ende der Arbeit“ scheint plausibel und wissenschaftlich untermauert
Die These vom „Ende der Arbeit“ stellte der US-amerikanische Soziologe und Ökonom Jeremy Rifkin bereits im Jahr 1995 auf. Sie klingt auf den ersten Blick plausibel: Die Digitalisierung im Allgemeinen und die künstliche Intelligenz im Besonderen bergen ein immenses Rationalisierungspotenzial. Routinetätigkeiten – und davon gibt es nach wie noch viele – lassen sich so in hohem Maße automatisieren. In der Folge sterben die Jobs.
Wie gewaltig das Ausmaß der Rationalisierung in Folge der Digitalisierung sein könnte, belegt die vielzitierte Studie „The Future of Employment“ von Osborne und Frey aus dem Jahr 2013. Nach deren Schätzungen arbeitet knapp die Hälfte der in den USA Beschäftigten in Jobs, die in den nächsten 20 Jahren dem digitalen Wandel zum Opfer fallen könnten. Legt man das Modell der beiden Autoren zugrunde, dann stünden auch in Deutschland über 40 Prozent der Jobs auf der Kippe.
Das Geschäft mit der Panikmache und die vermeintlichen Bitkom-Schätzungen
Die Medien greifen die Diskussion um das „Ende der Arbeit“ und die damit einhergehenden Angst-Szenarien nur allzu gerne auf. Ängste garantieren schließlich Aufmerksamkeit. Wie das „Geschäft mit der Panikmache“ im Hinblick auf die vermeintliche Jobvernichtung durch Digitalisierung funktioniert, skizziert ein lesenswerter Beitrag des renommierten Blogautors und Unternehmers Alain Veuve anhand einiger markanter Beispiele: Man klopft einfach jede neue Studie und jedes Interview zu den Effekten der Digitalisierung einseitig nach den negativen Jobeffekten ab und stellt diese dann in den Fokus.
Veuves Beitrag stammt aus dem Jahr 2016, er ließe sich aber problemlos mit aktuellen Beispielen untermauern. Ich denke an dieser Stelle unter anderem an jene „3,4 Millionen Digitalisierungsopfer“, die im letzten Jahr im Zuge der Veröffentlichung einer Bitkom-Studie durch die Medien geisterten. Was war passiert? Bitkom-Präsident Achim Berg gab der FAZ ein Interview, bei dem er – so die Darstellung der FAZ – diese aufsehenerregende Zahl aus dem Ärmel schüttelte. Im Text der FAZ hieß es dann „3,4 Millionen Stellen in den kommenden fünf Jahren sollen nach Angaben des Branchenverbandes wegfallen, weil Roboter und Algorithmen die Arbeit übernehmen.“ Die sich sonst als so konservativ und seriös gebende Tageszeitung titelte schließlich im Jargon der Boulevardpresse: „Jeder Zehnte bald arbeitslos – Digitalisierung zerstört 3,4 Millionen Jobs“.
Das Echo folgte prompt. Ob Spiegel Online, Wirtschaftswoche, Tagesschau oder MDR: Die „3,4 Millionen Digitalisierungsopfer“ schafften es in Anlehnung an den FAZ-Artikel in alle Kanäle. Ja, selbst die heute-show nahm in einer Twitter-Meldung darauf Bezug. Einziges Problem dabei: Weder in der am gleichen Tag erschienenen Presseinformation von Bitkom noch in den von Bitkom bereitgestellten „Unterlagen zur Vorstellung der Studienergebnisse“ ist von 3,4 Millionen dem Untergang geweihten Jobs die Rede. Tatsächlich wurden für die Studie 505 Unternehmen befragt, die laut Branchenverband hochgerechnet 3,4 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze repräsentieren. Aha!?
Falls Sie an dieser Stelle ein übler Verdacht beschleicht, dann werfen Sie einen Blick auf den zehn Tage später erschienenen Beitrag bei Zeit Online – dem einzigen Medium, das dieser Meldung kritisch auf den Zahn fühlte. Im Gespräch mit Zeit Online widersprach Bitkom schließlich der von der FAZ kolportierten Zahl, wogegen letztere auf ihrer Darstellung beharrte. Doch egal, wer für dieses Kommunikationsdesaster verantwortlich ist: Im öffentlichen Gedächtnis bleiben schlussendlich nur die von der FAZ vermeldeten und von weiteren Medien unkritisch übernommenen 3,4 Millionen Digitalisierungsopfer als Angstszenario bestehen.
ZEW-Analyse mahnt bei der Interpretation der Osborne/Frey-Studie zur Vorsicht!
Zurück zur bekannten Studie von Osborne und Frey. Wissenschaftler des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung nahmen diese Studie in einer interessanten und gut lesbaren Kurzexpertise für das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Jahr 2015 unter die Lupe. Deren kritische Würdigung sei allen Auguren, die in ihren Vorträgen und Fachbeiträgen regelmäßig auf die Osborne/Frey-Studie verweisen, dringend ans Herz gelegt. So merken die Wissenschaftler des ZEW zunächst an, dass sich primär Tätigkeiten und nicht Berufe mit digitalen Werkzeugen automatisieren lassen. Würde dies berücksichtigt, so wären in Deutschland nur zwölf Prozent (anstatt 40 Prozent) der Beschäftigten von der Automatisierung betroffen.
Weiterhin raten die Autoren zu großer Vorsicht bei der Interpretation der von Osborne und Frey berechneten technischen Automatisierungswahrscheinlichkeiten. Denn in der Praxis würde beileibe nicht alles automatisiert, was technisch möglich wäre. Dementgegen stehen sowohl gesellschaftliche, rechtliche und ethische Hürden als auch ökonomische Gründe. So ist es im Einzelfall fraglich, ob sich die Implementierung einer komplexen Automatisierungslösung lohnt, wenn einerseits die Experten zur Umsetzung und Administration selbiger knapp und teuer sind und andererseits genügend Personal für die zu automatisierende Tätigkeit zur Verfügung steht.
Schlussendlich warnt das ZEW-Projektteam um Prof. Dr. Holger Bonin davor, aus den Automatisierungswahrscheinlichkeiten auf Gesamtbeschäftigungsverhältnisse zu schließen. „Denn häufig verändern neue Technologien Arbeitsplätze, ohne sie zu beseitigen, und die gewonnenen Freiräume können von den Beschäftigten genutzt werden, um schwer automatisierbare Tätigkeiten auszuüben“. Hinzu käme, dass im Zuge des Einsatzes der neuen Technologien auch neue Arbeitsplätze geschaffen würden.
Die ZEW-Experten negieren dabei nicht, dass Verwerfungen im Arbeitsmarkt aufgrund der Digitalisierung wahrscheinlich sind. So seien die in Folge der Digitalisierung neu entstehenden Arbeitsplätze tendenziell anspruchsvoller als jene, die wegrationalisiert würden. Die von Osborne und Frey errechneten Automatisierungswahrscheinlichkeiten lieferten vor diesem Hintergrund eine wichtige Basis, um den Anpassungsdruck für bestimmte Berufsgruppen zu ermitteln. Unabhängig davon seien die Zusammenhänge zwischen Automatisierung, Veränderung von Berufsbildern, Arbeitsplatzverlusten und Arbeitsplatzentstehung bisher aber nur unvollständig verstanden.
Differenzierte Aussagen zu den Job-Effekten erscheinen allenfalls als Randnotiz
Die Ausführungen des ZEW-Teams wurden durch eine im Jahr 2017 erstellte Szenario-Analyse des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung weiter untermauert. Demnach habe die Digitalisierung „kaum Auswirkungen auf das Gesamtniveau der Beschäftigung, führt aber zu größeren Verschiebungen von Arbeitsplätzen zwischen Branchen, Berufen und Anforderungsniveaus“.
Solche differenzierten Aussagen erscheinen in dem von Alain Veuve angeprangerten „Geschäft mit der Panikmache“ jedoch nur als Randnotiz. Beispielhaft hierfür steht ein Artikel von Spiegel Online zu den vermeintlichen Bitkom-Zahlen. Zwar verweist der Beitrag im abschließenden Teil auf einige anderslautende Analysen wie die des ZEW. Es hielt die Spiegel-Online-Macher aber freilich nicht davon ab, den Artikel mit „Digitalisierung bedroht 3,4 Millionen Jobs“ zu betiteln – und diesen auch nach der Klarstellung von Bitkom im Gespräch mit Zeit Online weiter unverändert online zu stellen.
Digitale Technologien eröffnen neue Möglichkeiten
Kurzum: Das „Ende der Arbeit“, wie von Rifkin prophezeit, ist auf absehbare Sicht nicht in Sicht und die darüber hinausreichenden Prophezeiungen bislang reine Spekulation. Das Bild, das uns die Medien zu dieser Frage liefern, ist durch die einseitige Betonung von Angst-Szenarien verzerrt.
Das Grundproblem von Analysen, aus denen solche Szenarien hervorgehen, ist, dass sie die Wirtschaft als kaum veränderungsfähig (deterministisch) betrachten – so, als ob sich alle Probleme dieser Welt von jetzt auf gleich mittels digitaler Technologien lösen ließen. Dem ist jedoch nicht so – vielmehr bietet uns die künstliche Intelligenz erst die Möglichkeit, zu erkennen, wo die tieferliegenden Gründe für das ein oder andere Problem liegen. Zudem eröffnen digitale Technologien uns hoffentlich Freiräume, um diese Probleme auch anzugehen.
Ich spreche deshalb von „hoffentlich“, weil die schon seit vielen Jahren diskutierte Automatisierung von Routinetätigkeiten immer noch in den Kinderschuhen steckt. Gleichzeitig aber steigt der Anteil der Wissensarbeit – und in der Folge die Be- beziehungsweise Überlastung der Mitarbeiter. Die Ergebnisse der Hays-Wissensarbeitsstudie 2017 liefern hierfür eindeutige Belege.
Anstatt über Jobvernichtung zu sinnieren, sollte die Jobveränderung aktiv begleitet werden
Doch auch ohne großflächige Jobvernichtung sind Umbrüche im Arbeitsmarkt wahrscheinlich und lastet auf den Mitarbeitern in den Unternehmen ein enormer Anpassungsdruck. Tradierte Rollenbilder werden obsolet und ein lebenslanges Lernen unabdingbar. Um vor diesem Hintergrund einer Klasse an „nutzlosen Menschen“ (Harari) vorzubeugen, sollten wir neue Wege in der Bildung diskutieren. Zudem gibt es auch ohne ein nahes „Ende der Arbeit“ genügend Gründe, über ein bedingungsloses Grundeinkommen (Precht) – und in diesem Zusammenhang insbesondere über einen Umbau unseres aus dem vorletzten Jahrhundert herrührenden Steuersystems nachzudenken.
In diesem Veränderungsprozess sind auch und zuvorderst die Unternehmen gefordert. So verweise ich abschließend gerne noch einmal auf das zu Beginn des Beitrags angeführte Interview mit Dr. Lars Schatilow. Mein Credo daraus: Anstatt einen großflächigen Personalabbau in den Fokus der Digitalstrategie zu stellen, sollten die Unternehmen den Einsatz digitaler Werkzeuge als Entdeckungsreise begreifen und die damit einhergehenden Jobveränderungen aktiv begleiten.
Wie Praktiker und Experten aus Branchen mit vermeintlich hohem Rationalisierungspotenzial – konkret in der Landwirtschaft und im Contact-Center-Umfeld – das Potenzial der künstlichen Intelligenz beurteilen und welche Implikationen sich daraus ergeben, wird im zweiten Teil dieser Beitragsserie diskutiert: Der Mythos vom Ende der Arbeit (2): Einblicke in die Praxis
Anmerkung: Dr. Andreas Stiehler hat bisher regelmäßig für das QSC-Themenblog „Digitales Wirtschaftswunder“ geschrieben. Wir freuen uns, dass er jetzt auch im Corporate Blog von QSC publiziert. Über die Auswahl und Analyse der Inhalte seiner Blog-Beiträge entscheidet der renommierte Analyst selber.
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