Fürchtet Euch nicht! Komplexität ist nicht gleich Chaos
Entgegen der Meinung vieler Politiker, Unternehmenslenker und Wirtschaftswissenschaftler sind die Menschen durchaus in der Lage, in einer selbstorganisierten Gemeinschaft komplexe Probleme zu lösen. Hierzu bedarf es aber Regeln und Konfliktlösungsmechanismen – und es gibt keine Patentrezepte. Eine Würdigung der Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom, deren Werk erscheint heute aktueller denn je.
Elinor Ostrom: Wissenschaftlerin, die Denksilos einriss und deren Werk bis heute fortwirkt
Elinor Ostrom wurde vor zehn Jahren als erste und bislang einzige Frau mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften geehrt. Der Philosophie-Professor Hartmut Kliemt schloss einen Beitrag für die FAZ anlässlich der Preisverleihung mit den Worten: „Als Politikwissenschaftlerin, die man einst nicht zum Ökonomiestudium zulassen wollte, weil dies für Frauen ungeeignet sei, hat Elinor Ostrom es weit gebracht.“
Dem stimme ich zu. Allerdings wäre es ein großer Fehler, ihr Vermächtnis allein auf ihre Durchsetzungsfähigkeit als Wissenschaftlerin in den damals (und zum Teil bis heute) von Männern dominierten Wirtschaftswissenschaften zu reduzieren. Vielmehr trug Elinor Ostrom mit ihrer Forschung wesentlich dazu bei, tradierte Denkweisen in den Wirtschaftswissenschaften zu hinterfragen und zu überwinden. Am Beispiel der Allmende zeigte sie auf, dass Menschen – anders als von orthodoxen Ökonomen lange Zeit angenommen – durchaus in der Lage sind, in einer selbstorganisierten Gemeinschaft komplexe Probleme zu lösen. Sie lieferte zudem viele Impulse, wie der Rahmen hierfür gestaltet werden sollte.
Schließlich sollte man auch nicht den Fehler begehen, ihr Vermächtnis auf die Erforschung der Allmende zu reduzieren. Die Beschäftigung mit ihrem Werk ist lohnend und inspirierend – ganz gleich, ob man sich mit den Herausforderungen des Klimawandels oder der Reorganisation von Unternehmen in einem immer komplexeren Umfeld auseinandersetzt.
Wirtschaftswissenschaftler und die „Angst vor dem Chaos“
Bei der Annäherung an Ostroms Forschung lohnt es sich, die wirtschaftswissenschaftliche Debatte der letzten Jahrzehnte im Lichte der allgegenwärtigen „Angst vor dem Chaos“ grob nachzuzeichnen.
„Complexity is not the same as chaos“ lautete schließlich auch eine der Kernbotschaften ihres bewegenden 30-minütigen Vortrags anlässlich der Nobelpreisverleihung: „We must learn how to deal with complexity rather than rejecting it.“ Kurzum: Elinor Ostrom lädt dazu ein, die Komplexität im menschlichen sozialen und wirtschaftlichen Handeln zu respektieren, zu analysieren und zu schätzen – anstatt sie zu fürchten und abzulehnen. Hinter dieser Aussage verbirgt sich ein Seitenhieb auf die Wirtschaftswissenschaften, die über Jahrzehnte hinweg dazu neigten, der Komplexität aus dem Weg zu gehen und stattdessen vermeintlich einfache, aber letztlich unzureichende Lösungen zu propagieren.
Dabei waren es vor mehr als 200 Jahren zunächst die Wirtschaftswissenschaftler selbst beziehungsweise deren Nestor Adam Smith, welche der in der Epoche der Aufklärung verbreiteten „Angst vor dem Chaos“ eine wirkungsvolle Theorie, die bekannte „unsichtbare Hand“ entgegensetzten. Die Botschaft aus Adam Smiths Werk „Wealth of Nations“ ist eindeutig: Fürchtet Euch nicht, lasst den Menschen die Freiheit! Das System wird ohne fürstliches oder kirchliches Diktat nicht zusammenbrechen. Markt und Wettbewerb sorgen dafür, dass für die Gemeinschaft das beste Resultat erzielt wird.
John F. Nash und das Gefangenendilemma
In der Folge entwickelten die Wirtschaftswissenschaftler eine ausgeklügelte Theorie der Marktwirtschaft, die im Kern darauf fußte, dass der Mensch als „Homo oeconomicus“ nur seinen eigenen Interessen folgt und ansonsten vernünftig (rational) entscheidet. Allerdings erwies sich Adam Smiths „unsichtbare Hand“ in diesem, mit den Werkzeugen der Spieltheorie immer weiter verfeinerten Modell nicht als allmächtig. So zeigte der geniale Mathematiker John F. Nash, der gemeinsam mit Reinhard Selten und John Harsani 1994 mit dem Wirtschaftsnobelpreis geehrt wurde, dass individuelle Rationalität als einzige Richtschnur des Handelns zu desaströsen Ergebnissen für die Gemeinschaft führen kann.
Im Film „A Beautiful Mind“ zum Leben von John F. Nash wird das bekannte Gefangenendilemma, das einem solchen Marktversagen zu Grunde liegt, plastisch veranschaulicht. Jedem, der diesen Blockbuster gesehen hat, dürfte die Schlüsselszene, das Werben um die Blondine noch in Erinnerung sein. Nash stellt im Anschluss an diese Szene Adam Smiths Glauben an den Wettbewerb (unter eigennützigen Individuen) als Garant für den Wohlstand in Frage. Seine Schlussfolgerung im Film [sinngemäß]: „Das beste Resultat lässt sich nur dann erzielen, wenn jeder das tut, was für ihn UND für die Gruppe am besten ist.“
Wo die „unsichtbare Hand“ versagt: öffentliche und Allmende-Güter
Tatsächlich aber gibt es in der Praxis immens viele Situationen, in denen individuelle Interessen und das Wohl der Gemeinschaft auseinanderdriften. Das klassische Beispiel hierfür sind die sogenannten öffentlichen Güter wie Landesverteidigung oder Deichbau – alle Menschen profitieren davon, aber keiner hat einen Anreiz, zu deren Aufbau beizutragen. Wenn der Mensch nur seinem eigenen Interesse folgen würde, kämen unter den Bedingungen eines freien Marktes solche Güter gar nicht erst zustande. Individuelle Rationalität führt hier zu kollektiver Irrationalität.
Ähnlich verhält es sich mit Allmende-Gütern wie gemeinschaftlich genutzten Fischgründen, Weide- oder Bewässerungssystemen, denen sich Elinor Ostrom in ihrer Forschung widmete. Diese Güter sind allgemein verfügbar, lassen sich aber nicht abgrenzen. Die Menschen haben so einen Anreiz, diese zu übernutzen und in der Folge zu zerstören. Der Eigennutz der Menschen führt also wieder zum Desaster – die bekannte „Tragik der Allmende“ nimmt ihren Lauf.
Die Antwort der orthodoxen Ökonomen: privatisieren oder eine (zentrale) ordnende Hand
Aber sind die Menschen überhaupt allein in der Lage, sich aus dem Gefangenendilemma zu befreien? Können sie ihren Egoismus überwinden und einen Gemeinsinn entwickeln, der notwendig wäre, um im System das beste Resultat zu erzielen? Dazu bräuchte es Vertrauen, das für viele orthodoxe Ökonomen bis heute noch ein Fremdwort darstellt. Und überhaupt: Wenn man Wirtschaftstheorien und Ordnungssysteme am menschlichen Verhalten ausrichten würde, so das gängige Gegenargument, dann öffnete man der Komplexität Tür und Tor – ein Fass ohne Boden.
Da ist sie also wieder, die „Angst vor dem Chaos“ beziehungsweise vor dem Kontrollverlust, mit der Adam Smith ursprünglich aufräumen wollte. Und ängstliche Menschen– das wissen wir aus aktuellen politischen Debatten – greifen gerne auf herkömmliche, vermeintlich sichere Konzepte zurück. In den orthodoxen Wirtschaftswissenschaften und tradierten politischen Institutionen äußert sich dieser Rückgriff dann darin, dass für öffentliche Güter und Allmenden idealerweise eine Privatisierung oder – wenn eine solche nicht möglich ist – eine starke ordnende Hand gefordert wird. Der Staat, bitte schön, soll es richten.
Elinor Ostrom fand einen anderen Weg aus dem Dilemma: die Kraft der Selbstorganisation
An dieser Stelle kommt Elinor Ostrom ins Spiel. Die Politikwissenschaftlerin entschloss sich zu einem für die damalige Zeit völlig unorthodoxen und radikalen Weg, indem sie sich nicht an die gängigen Theorien klammerte, sondern in die Praxis schaute. Sie bereiste die ganze Welt und sammelte immens viele Beispiele für die erfolgreiche Organisation von Allmenden.
Und siehe da: Sie entdeckte, dass sich – jenseits der ordnenden Hand des Staates – Menschen selbstorganisiert funktionierende Systeme schufen, innerhalb derer Gemeinsinn entwickelt und das (Gefangenen-) Dilemma überwunden wurde. Mehr noch: In vielen Fällen – ob bei der Wasserregulierung, bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder bei der Organisation der Hummerfischerei; ob in den USA, auf den Philippinen, in der Schweiz oder Japan – zeigten sich die lokal vernetzten Gemeinschaften den zentral organisierten Institutionen und Lösungen, die allein auf Privatisierung fußen, überlegen.
Ihre Erkenntnisse aus mehr als 1000 Fallstudien fasste Elinor Ostrom in ihrem Hauptwerk, dem Buch „Governing the Commons: The Evolution of Institutions for Collective Action“ oder auf Deutsch „Die Verfassung der Allmende“ (1990) zusammen. Darin stellte sie auch acht Designprinzipien für eine erfolgreiche Selbstorganisation der Allmenden auf. Wem das Lesen des Buches zu lange dauert, dem empfehle ich an dieser Stelle einen wunderbaren Aufsatz von Volker Stollorz zu „Elinor Ostrom und die Wiederentdeckung der Allmende“. Dieser gibt die Ergebnisse von Ostroms Allmende-Forschung – einschließlich der Designprinzipien – anschaulich und mit spannenden Beispielen wieder.
Das Gefangenendilemma ist allgegenwärtig – auch in den Unternehmen
Man mag an dieser Stelle einwenden, dass Ostroms Forschung sich letztlich nur auf ein Spezialgebiet der Wirtschaft, die Organisation von Allmenden, bezieht. Dem ist jedoch nicht so. Tatsächlich braucht es nicht viel Fantasie, um aus den Forschungsergebnissen Ostroms und den von ihr aufgestellten Designprinzipien auch Anregungen für die Reorganisation von Unternehmen abzuleiten.
Das Gefangenendilemma, dessen Lösung Elinor Ostrom auf den Grund ging, ist schließlich nicht nur bei öffentlichen Gütern oder den Allmenden, sondern auch in den Unternehmensorganisationen omnipräsent. Jede Form der Zusammenarbeit, die nicht vollständig vertraglich fixierbar ist, geht letztlich mit diesem Dilemma einher. Und je größer die Komplexität in Folge von Digitalisierung und Globalisierung, desto schwerer fällt es den Unternehmen, eine funktionierende Zusammenarbeit im Sinne des Systems sicherzustellen.
Ostrom bietet spannende Impulse für den Wandel von Unternehmensorganisationen
Ähnlich wie bei den orthodoxen Ökonomen und tradierten politischen Institutionen grassiert auch bei vielen Verantwortlichen in den Unternehmen die „Angst vor dem Chaos“. Mit den üblichen Reaktionen: Um die Ordnung trotz zunehmender Komplexität aufrecht zu erhalten, werden vermeintlich bewährte Konzepte wieder aus der Schublade geholt. Man feilt weiter an den ohnehin schon komplizierten und hierarchischen Anreiz-, Kontroll- und Steuerungssystemen – nur um sicherzustellen, dass Mitarbeiter und Teams auf Linie bleiben. Die Ergebnisse der Ambidextrie-Studie von Hays, die ich für diesen Blog bereits ausführlich diskutierte, liefern hierfür zahlreiche Belege.
Elinor Ostrom würde dagegen wohl für eine Stärkung der Selbstorganisation plädieren – mit Regeln und Konfliktlösungsmechanismen, welche die Mitarbeiter vor Ort selbst entwickeln. Gleichzeitig würde die Wissenschaftlerin etwaigen Sozialromantikern, die glauben, man müsste den Mitarbeitern nur die Verantwortung übertragen und schon werde alles gut, energisch entgegentreten. Eine funktionierende Zusammenarbeit, so lernt man aus ihren Arbeiten, muss immer wieder neu ausgehandelt werden. Es braucht Regeln, Transparenz und gegebenenfalls auch Sanktionsmechanismen, um das erforderliche Vertrauen herzustellen.
Es gibt keine Patentrezepte!
Elinor Ostrom würde weiter die Organisationsberater dazu ermutigen, sich ein Stück von den erlernten Methoden zu lösen und bei der Lösung von Problemen auch mentale Modelle anderer Auguren in Betracht zu ziehen. Mit ihren in den Feldstudien gesammelten Erfahrungen ging sie schließlich auf Wirtschaftswissenschaftler wie Reinhard Selten und Vertreter anderer Disziplinen zu, um gemeinsam neue Theorien des menschlichen Verhaltens und der Zusammenarbeit in sozioökonomischen Systemen zu entwickeln.
Schließlich würde Elinor Ostrom alle Akteure dazu anhalten, sich nicht an vermeintlichen „Best Practices“ auszurichten, sondern nach eigenen Lösungen zu suchen, die im lokalen Kontext passen. Tatsächlich ließ sie keine Gelegenheit aus, zu betonen, dass es keine Patentrezepte für die Lösung komplexer Probleme gibt. Ihr Mantra, das sie auch zum Abschluss ihrer Nobelpreisrede wiederholte, lautete „There are no panaceas“.
Credo: Ostroms Mission ist noch nicht beendet!
Elinor Ostrom starb am 14. Juni 2012, ihre Mission aber ist noch nicht beendet. Schließlich ist die „Angst vor dem Chaos“ noch immer präsent und wird die Kraft der Selbstorganisation von politischen Entscheidungsträgern ebenso wie von vielen Unternehmenslenkern immer noch mit Argusaugen betrachtet. Motivation genug, um an ihr Werk zu erinnern und dabei zu helfen, den Erkenntnissen aus ihrer Forschung Gehör zu verschaffen.
Anmerkung: Dr. Andreas Stiehler hat bisher regelmäßig für das QSC-Themenblog „Digitales Wirtschaftswunder“ geschrieben. Wir freuen uns, dass er jetzt auch im Corporate Blog von QSC publiziert. Über die Auswahl und Analyse der Inhalte seiner Blog-Beiträge entscheidet der renommierte Analyst selber.
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