QSC ist jetzt q.beyond. Weitere Infos in unserer Pressemitteilung.
Publiziert am 11. Oktober 2019 von unter: ,

Zwischenruf im Echoraum: VUCA, Chaostheorie & Hermann Hesse

Das Chaos beherrschen im Angesicht von VUCA! Bild: © Westend61 / Getty Images

Das Chaos beherrschen im Angesicht von VUCA! Bild: © Westend61 / Getty Images

Immer mehr Führungskräfte sehen sich mit einem Umfeld konfrontiert, das in hohem Maße durch Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeiten („Ambiguity“) gekennzeichnet ist. Die Chaostheorie und, begleitend dazu, Hermann Hesses Gedicht „Stufen“ bieten wertvolle Hinweise, um in einer solchen „VUCA-Welt“ zu bestehen.

An dieser Stelle kommentiert Dr. Andreas Stiehler, der als freiberuflicher Analyst, Berater und Autor unter anderem für teknowlogy | PAC tätig ist, regelmäßig Web-Beiträge exklusiv für die Leser des QSC-Blogs. Über die Auswahl und Analyse der Inhalte seiner Blog-Beiträge entscheidet der renommierte Analyst selbst. Im Fokus dieses Beitrags: „Folgerungen aus der Chaostheorie“, ein (Youtube-)Vortrag von PD Dr. Dr. Guido Strunk. 

 

„VUCA“ ist en vogue. Aber was steckt hinter dem neuen Buzzword?

Ob auf Konferenzen, Workshops oder in der Fachpresse: Das Kürzel „VUCA“, das für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit („Ambiguity“) steht, scheint omnipräsent. Es wurde ursprünglich vom Militär geprägt, um die veränderte multilaterale Welt nach Ende des Kalten Kriegs zu skizzieren. Doch seit etwa fünf Jahren – so bestätigt die Google-Trend-Analyse – ist das Interesse am „VUCA“-Begriff auch außerhalb des Militärischen rasant gestiegen. Dies kommt wenig überraschend, erscheint uns unsere hochvernetzte Welt doch immer weniger plan- und steuerbar. Strategie, Organisation und Führung der Unternehmen werden in der Folge immer häufiger hinterfragt.

Und wo ein neues Buzzword die Runde macht, sind auch die Berater nicht fern. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass ein neuer Artikel mit wohlmeinenden Hinweisen zur Führung in der VUCA-Welt erscheint – und dabei mit immer neuen Wortschöpfungen aufwartet. Die handelnden Akteure, so wird vielfach postuliert, sollten ihre mentalen Modelle überdenken, tradierte Denkschemen über Bord werfen und sich ein neues (agiles) Mindset zulegen. Sie sollten sich vom linearen, mechanistischen Denken verabschieden und in „Ambiguitätstoleranz“ üben sowie die Selbstorganisation ausbauen und eine Fehlerkultur etablieren.

Das neue Vokabular klingt gut und trifft das Bauchgefühl der meisten Akteure. Entsprechend oft wird es, zumeist unkritisch, in Präsentationen und Fachartikel übernommen. Aber was steckt eigentlich genau hinter diesen Begriffen? Was bedeutet komplex und chaotisch – und wie unterscheidet sich dieser Zustand von der herkömmlichen Welt, die ja auch schon reichlich kompliziert war? Was bedeutet mechanistisches Denken, woher rührt es und warum kommt es in der VUCA-Welt an seine Grenzen? Aus meiner Sicht lohnt es sich, diesen Fragen nachzugehen, sowohl um aus einem tiefen Verständnis heraus die richtigen Ableitungen fürs eigene Tun zu treffen als auch um neuen Berater- und Managementmoden nicht auf den Leim zu gehen.

 

Grundzüge der Chaostheorie – skizziert im Stufen-Gedicht von Herrmann Hesse

Auf der Suche nach Antworten möchte ich Ihnen den Vortrag zu „Folgerungen aus der Chaostheorie“ von PD Dr. Dr. Guido Strunk (Video) unbedingt ans Herz legen. Der promovierte Wirtschaftswissenschaftler und Psychologe, der sich der Erforschung komplexer Systeme verschrieben hat, liefert darin eine didaktische Meisterleistung ab. In einer Stunde vermittelt er auf anschauliche, spielerische ja sogar poetische Weise Grundzüge und praktische Erkenntnisse der Chaostheorie. Begleitend dazu (und illustriert durch zahlreiche Anekdoten) bietet er zudem einen historischen Abriss zum wissenschaftlichen Diskurs um die Erkennbarkeit und Vorhersagbarkeit der Welt – von den alten Griechen bis in die Gegenwart.

Ein detaillierter Bericht über den Vortrag würde den Rahmen dieses Textes sprengen. Schauen Sie einfach selbst, die Stunde ist gut investiert. Nur soviel sei erwähnt: Den Rahmen bildet das Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse. Dieses beschreibt auf wunderbare Weise, dass unsere Lebensreise ein Werden und Vergehen ist, ein chaotisches System eben, wobei sich auf jeder Stufe eine neue Ordnung – ein Muster, in dem wir uns geborgen fühlen – ausbildet. Sie erinnern sich sicher: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben“. Diese zauberhafte Ordnung ist allerdings nicht von Dauer, sie gilt nur „zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern“.

Die Chaostheorie, so erläutert Strunk, bildet im Kern diese alte, im Gedicht wiedergegebene Lebensweisheit ab. Sie besagt eben nicht, dass die Welt keiner Ordnung unterliegt. Die Naturgesetze sind nach wie vor gültig. Allerdings widerspricht sie der These, dass die Welt eindeutig vorhersagbar sei. Und genau an diesem Punkt hebt sie sich ab von unserer herkömmlichen, über viele Jahrhunderte ausgebildeten mechanistischen (linearen) Denkweise.

 

„Mechanisches Denken“ betrachtet die Welt als statisch und vorhersagbar

Strunk führt weiter aus, dass sich bereits die alten Griechen darauf einigten, dass die Welt vernünftig und somit erklär- und in mathematischen Formeln abbildbar sei. Geniale Köpfe wie Galilei, Newton oder Laplace machten sich später daran, die Welt zu vermessen und mittels Naturgesetzen zu erklären. Eine Intelligenz, die alle Wirkkräfte kennt (der „Laplacesche Dämon“), so die Annahme, könnte schließlich den Weltenlauf vorhersagen. Der Optimismus dieser Zeit ist nachvollziehbar, versetzten die Erkenntnisse der mechanischen Physik doch die Menschen in der Lage, die Welt in einem bis dato unvorstellbaren Ausmaß zu erklären und für die Menschen verfügbar zu machen.

Allerdings hat das mechanische Denken auch Schwachstellen, auf die Strunk im weiteren Teil des Vortrages eingeht: Ein „Werden und Vergehen“, etwa, wie es sich in der Natur immer wieder beobachten lässt und in Hesses Gedicht beschrieben wird, ist damit nicht abbildbar. Stattdessen nimmt die mechanische Physik an, dass alles, was vergeht, sich auf gleiche Weise (nach den gleichen Gesetzen) auch wieder zusammenfügen ließe – was aber praktisch unmöglich sei. Weiterhin kommt die von diesem Denkmodell postulierte Vorhersagbarkeit der Welt an ihre Grenzen, wenn in einem System (dem fortlaufend Energie zugeführt wird), mehrere Variablen mit positivem und negativem Feedback (nicht-linear) interagieren. Das System ist dann eben nicht mehr nur kompliziert, sondern komplex und chaotisch.

 

Grenzen der Vorhersagbarkeit: Chaotisches Pendel und Schmetterlingseffekt

Strunk veranschaulicht dies eindrucksvoll an einem Pendel(-spiel). Die Bewegung eines einfachen Pendels, dies wissen wir bereits seit Galileis Experimenten, ist berechen- und vorhersehbar. Aber wie sieht es aus, wenn man mehrere Pendel aneinanderknüpft? Schon bei drei interagierenden Pendeln entsteht ein chaotisches System, das, wie hier, zwar wunderbar anzuschauen ist, dessen Verlauf sich aber nicht mehr vorhersagen lässt.

So ist das Pendelspiel nicht (funktional) analytisch lösbar, da die sich ergebende Differenzial-Zeichnung nicht geschlossen integrieren werden kann (siehe auch „Dreikörperproblem“). Und mehr noch: Das Pendelexperiment ließe sich (selbst unter klinischen Bedingungen) nicht mit dem gleichen Ergebnis replizieren. Denn mikroskopisch kleine Abweichungen, wie „das Hüsteln eines Atoms“, führten in kürzester Geschwindigkeit zu dramatischen Abweichungen. Vor dem gleichen Hintergrund sei es auch nicht möglich, ein chaotisches System eindeutig zu simulieren. Dies würde schließlich bedeuten, dass man jede erdenkliche Nachkommastelle berücksichtigen müsste, was wiederum praktisch unmöglich sei, da sich die Berechnungszeit dann ins Unendliche ausdehnen würde.

Eine solch kleine Ungenauigkeit bei der Berücksichtigung der Nachkommastellen führte übrigens zur Entdeckung des bekannten „Schmetterlingseffekts“. Der Meteorologe Edward N. Lorenz, der vielen als Wegbereiter der Chaostheorie gilt, gelangte zu komplett unterschiedlichen Ergebnissen, als er eine Wettersimulation auf Basis eines komplexen Prognosemodells an zwei verschiedenen Rechnern durchführte. Als Ursache für diesen Effekt zeigt sich, dass die Rechner eine unterschiedliche Zahl an Nachkommastellen verarbeiteten. Für die Praxis aber bedeutet dies, dass schon der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen könnte.

 

Chaos ist allgegenwärtig – im menschlichen Gehirn wie in der Wirtschaft

Freilich bleibt dieser Effekt nicht auf die Meteorologie beschränkt, sondern ist ein Wesensmerkmal aller chaotischen Systeme. Das menschliche Gehirn, so stellt Strunk im Anschluss heraus, arbeitet ganz klar chaotisch. Immerhin interagieren hier ca. 100 Milliarden Neuronen mit positivem und negativem Feedback, die notwendige Energie beziehen wir über die Nahrungsaufnahme.

Und nicht nur das menschliche Gehirn: Beim Schauen des Videos dämmert mir, dass wir im Wirtschaftsleben von chaotischen Systemen umgeben sind. Die zunehmende Globalisierung und digitale Vernetzung sorgen schließlich dafür, dass der sprichwörtliche „Sack Reis, der in China umfällt“ sich in rasanter Geschwindigkeit dramatisch auf die Wirtschaft hierzulande auswirken könnte. Willkommen in der VUCA-Welt!

 

Lehren aus der Chaostheorie

Und was kann man als „Folgerungen aus der Chaostheorie“ aus Strunks Vortrag für die Praxis mitnehmen?

  • Wir sollten unseren Denkraum erweitern und lernen, Mehrdeutigkeiten zu akzeptieren. Die Chaostheorie, so lernte ich aus dem Vortrag, bricht nicht radikal mit der mechanischen Physik. Die Naturgesetze gelten ja nach wie vor. Dennoch nagt sie an Grundgewissheiten unseres mechanistischen Denkens beziehungsweise regt dazu an, unseren Denkrahmen zu erweitern. Denn die dem (linearen) mechanischen Denken zugrunde liegende zweiwertige aristotelische Logik (entweder … oder… etc.) schließt die Möglichkeit des Chaos und damit die Lebendigkeit aus.

Lesen Sie hierzu auch einen spannenden Beitrag von Conny Dettloff, der zur „Ambiguitätstoleranz“ einlädt, ohne dass er dieses Modewort selbst bemüht. Darüber hinaus bietet der Beitrag zahlreiche Links zu weiteren interessanten Arbeiten in diesem Feld.

  • Selbstorganisation ist nicht gleich Chaos. Chaotische Systeme tendieren dazu, selbstorganisiert neue Ordnungen herauszubilden. Strunk illustriert dies anhand eines Scrabble-Spiels und mit Verweis auf die Synergetik (Theorie der Musterbildung in chaotischen Systemen) von Herrmann Haken. Interessant dabei: Bei der Bildung der neuen Ordnung im Zuge eines Feedback-Mechanismus greift das System auf bestehende (uns innewohnende) Muster, am Beispiel des Scrabble-Spiels unsere Sprachlogik, zurück. Strunk spricht in diesem Zusammenhang von „selbstversteckten Ostereiern“. Ist das Muster erst gewählt, „versklavt es das System“.

Es bedarf nicht viel Fantasie, um an dieser Stelle zu erahnen, dass bei der Herausbildung neuer Strukturen und Ordnungen in selbstorganisierten sozialen Systemen unsere bestehenden Denkmuster (bzw. unsere Kultur) eine maßgebliche Rolle spielen. Für Interessierte: Hier ein sehr interessanter (und verständlicher) Vortrag des genialen wie sympathischen Begründers der Synergetik, Hermann Haken.

  • Chaos ist essenziell für Gesundheit, Kreativität und Innovation. Das Chaos hält das System lebendig, es eröffnet neue Lern- und Trainingsräume. Strunk verweist im Vortrag beispielhaft auf die Herzratenvariabilität als Indikator für die Gesundheit des menschlichen Körpers. Ich denke an dieser Stelle an unseren Umgang mit Fehlern. Wer nur darauf bedacht ist, Chaos zu vermeiden, nimmt dem System die Lebendigkeit und damit auch die Innovationskraft.

Strunks Ausführungen zeigen vor diesem Hintergrund auch die Beschränkungen vermeintlich intelligenter Algorithmen, die nach der klassischen aristotelischen Logik arbeiten und so das Chaos ausschalten. Conny Dettlof argumentiert genau aus diesem Grund in einem eindrücklichen Text, dass es „künstliche Intelligenz“ (noch) nicht gibt.

  • Wer einen Wandel bewirken will, sollte nach der Energie im System suchen. Systeme, auch dies beschreibt die Chaostheorie, sind grundsätzlich bestrebt, Muster zu stabilisieren. Um das System in einen anderen Zustand zu überführen, bedarf es der Zufuhr von Energie. „Wenn ich die Energie im System finde, kann sich die Ordnung ändern“, erläutert Strunk. Aber wie kann das gelingen? Der promovierte Psychologe verweist in diesem Zusammenhang auf Techniken der systemischen Therapie. Um Energie, also Lust auf Veränderung zu entfachen, lohnt es sich aus seiner Sicht, den Fokus von Diskussion weg von der Problemanalyse („Problem Talks“) und hin zur konstruktiven Suche nach Lösungen („Solution Talks“) zu lenken.

 

Fazit: „Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde“

Natürlich ist die Chaostheorie auch nur eine Theorie und als solche nicht frei von blinden Flecken. Doch zunächst regt sie dazu an, unseren Denkraum bei der Lösung komplexer Probleme zu erweitern. Und mehr noch: Die Chaostheorie macht Mut, in dem sie Veränderungen nicht als Systemstörung oder gar Systemunfall, sondern als natürlich und gesund interpretiert.

Gut so! Denn um in der VUCA-Welt zu bestehen, bedarf es auch und insbesondere Mut zum Beschreiten neuer Wege. Oder, wie es in Hermann Hesses „Stufen“ heißt: „Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe bereit zum Abschied sein und Neubeginne, um sich in Tapferkeit und ohne Trauern in andre, neue Bindungen zu geben.“

 

Drucken

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Um die Diskussionsqualität zu wahren, veröffentlichen wir nur noch Kommentare mit nachvollziehbarem Vor- und Nachnamen sowie authentischer E-Mail-Adresse.