Der Mythos vom Ende der Arbeit (3): Perspektive der Neurowissenschaften
Bots arbeiten präziser und schneller als wir Menschen es jemals vermögen, noch dazu lernen sie in atemberaubender Geschwindigkeit. Und doch sind sie aus Sicht des Neurowissenschaftlers Dr. Henning Beck nicht in der Lage, den Menschen den Rang abzulaufen. Denn das menschliche Denken baut auf „Verstehen“. Wissen und neuartige Ideen bleiben den Menschen vorbehalten, wobei gerade die Fehlerhaftigkeit unseres Denkens immer neue Perspektiven eröffnet.
Das vermeintliche „Ende der Arbeit“, so mein Credo aus den ersten beiden Folgen dieser Beitragsreihe („Studien und Medienecho“ sowie „Einblicke in die Praxis“), erweist sich bei genauerer Betrachtung eher als ein Mythos. Doch ein letzter Zweifel bleibt. So argumentierte ich bislang, dass nach jedem Rationalisierungsschritt neue komplexe Problemstellungen lauern, die sich nicht von jetzt auf dann über Algorithmen lösen lassen. Aber ist dem wirklich so? Bots, so das gängige Gegenargument, sind schließlich lernfähig. Und sie lernen in atemberaubender Geschwindigkeit, wobei ihnen das Wissen dieser Welt per Internet quasi frei Haus geliefert wird.
Hilft Lernen gegen „Dialogdemenz“?
Die Expertenstudie „Bots im Kundenservice 2015“ von PAC und Damovo illustriert diese Kontroverse sehr anschaulich. Auf der einen Seite attestieren Experten wie Andreas Klug vom deutschen KI-Pionier ITyX den Bots (noch) „Dialogdemenz“. „Chatbots leiden unter Dialogdemenz – noch zumindest. Sie geben Fahrplanauskünfte oder helfen uns beim Online-Versicherungsantrag. Aber sobald wir einen flüssigen Dialog erwarten, sind sie vor allen Dingen eines: dumm und vergesslich.“ (Andreas Klug, ITyX)
Die künstliche Intelligenz, so erläutert der KI-Experte in einem dedizierten Blogbeitrag zur „Dialogdemenz von Chatbots“, böte ein immenses Potenzial, um Wissensarbeit zu unterstützen und Effizienzpotenziale zu heben. Sie tue sich aber schwer damit, im Gespräch die Absicht des Gegenübers zu verstehen und sie in den richtigen Kontext zu bringen.
Zukunftsforscher Michael Carl (2B AHEAD) hält mit Verweis auf eben jene „Lernfähigkeit der Bots“ dagegen: „Bots lernen. Diese schlichte Selbstverständlichkeit ist der Schlüssel zum Erfolg. Indem ich den Bot einsetze, er mich beobachtet, lernt er mich Schritt für Schritt kennen und gewinnt an Qualität.“ (Michael Carl)
Beenden lernfähige Algorithmen die Ära der Menschen?
Denkt man diesen Gedanken weiter, dann dauert es vielleicht doch nicht mehr allzu lange, bis die künstliche Intelligenz uns Menschen in puncto Komplexitätsbeherrschung und Ideengenerierung den Rang abläuft. Schlussendlich könnte eine Superintelligenz irgendwann dazu übergehen, sich selbst zu verbessern („Seed AI“) und die Welt in einen Zustand der „technologischen Singularität“ zu führen. Der Begriff der „technischen Singularität“ geht übrigens auf einen gleichnamigen Artikel des Mathematikers und Autors Vernor Vinge zurück. In dem 1993 publizierten Beitrag prognostizierte er, dass wir „innerhalb von 30 Jahren über die technologischen Mittel verfügen werden, um übermenschliche Intelligenz zu schaffen. Wenig später ist die Ära der Menschen beendet.“ Die Singularitätsthese hat bis heute viele Befürworter, darunter insbesondere Techniker und Ingenieure wie der renommierte Ray Kurzweil, „Director of Engineering“ bei Google.
Neurowissenschaftliche Perspektive: Daten und Informationen ergeben noch kein Wissen!
Was aber meinen die Experten für das menschliche Denken, die sogenannten Hirnforscher hierzu? An dieser Stelle möchte ich Ihnen den gleichermaßen erhellenden wie unterhaltsamen Vortrag des Neurowissenschaftlers Henning Beck zum Thema „Warum künstliche Intelligenz nicht ausreicht, um die Welt zu beherrschen“ nahelegen. Er bietet nicht nur eine alternative Sicht auf die „Mensch-versus-Computer“-Diskussion, sondern liefert auch interessante Hinweise, wie wir Menschen uns besser auf das digitale Zeitalter einstellen können.
Zunächst trifft Beck eine klare Unterscheidung zwischen Daten, Informationen und Wissen. Daten, die oft beworbene Ressource der Zukunft, sind laut dem Hirnforscher eigentlich „totes Material von gestern“. Sie hätten eine Vergangenheit, aber nicht zwingend eine Zukunft. Wenn wir die Daten nutzten, um einen Sachverhalt zu beschreiben, erhielten wir Informationen. Aber Informationen, so betont Beck, seien kein Wissen. Daten und gegebenenfalls auch Informationen ließen sich googeln, nicht aber Wissen. Denn Wissen baue auf Verstehen.
Aus meiner Sicht ist dies ein immens wichtiger Punkt, der auch das Scheitern zahlreicher „Wissensmanagement“-Projekte um die Jahrtausendwende erklärt. Denn ein Großteil des für Innovationen so dringend benötigten Wissens ist an Personen gebunden und steht im Kontext mit deren Erfahrungen und sozialem Umfeld. Der Versuch, dieses implizite Wissen in relationalen Datenbanken zu konservieren, ist folglich von Anbeginn zum Scheitern verurteilt. Entsprechend ist es auch ein Mythos, dass „alles Wissen der Welt“ heute über das Internet zur Verfügung steht.
Das Bild vom „Gehirn als Supercomputer“ führt in die Irre – Menschen „verstehen“
Doch zurück zum Vortrag von Henning Beck, der im nächsten Schritt mit dem Bild vom „Gehirn als Supercomputer im Kopf der Menschen“ aufräumt. Becks Credo: „Das Gehirn ist faul, rechnet mies und ist noch dazu eitel.“ Dagegen seien Computer immens schnell, deutlich präziser und zudem breit vernetzt. Tatsächlich sei die Fehlerwahrscheinlichkeit bei Gehirnoperationen im Vergleich zu der eines Bots um etwa eine Milliarde mal höher.
Und dennoch gelängen wir Menschen zu erstaunlich guten Ergebnissen und seien, wie Beck an praktischen Beispielen vorführt, den Bots in vielerlei Hinsicht überlegen. Denn das menschliche Gehirn arbeite schlicht anders als Computer, die immer nach dem gleichen Muster – Input, Verarbeitung, Output – agierten. Wenn Menschen Informationen verarbeiten, werden zunächst einzelne Sinneszellen angeregt, die ihrerseits (bei Überschreiten eines Schwellenwerts) andere Zellen innerhalb des neuronalen Netzwerkes aktivieren. Auf diese Weise entstehen Gedanken. Wichtig hierbei: Die Verarbeitung und der Output fallen bei uns Menschen zusammen: Wir denken in Kategorien oder Konzepten – wir verstehen!
Neue Ideen bauen auf Verständnis – und die Lust, Regeln zu brechen
Henning Beck führt diesen Unterschied am Beispiel der Erkennung von Stühlen plastisch vor. Bei der Frage „Was ist ein Stuhl?“ würde eine künstliche Intelligenz nach dem Scannen zahlreicher Bilder darauf kommen, dass ein Stuhl per Definition vier Beine und gegebenenfalls eine Lehne hat. Menschen dagegen verstehen zunächst, dass der Stuhl ein Gegenstand ist, auf dem man sitzen kann. Ausgehend davon ist der Mensch in der Lage, neue Ideen zu kreieren.
Computer dagegen bestechen darin, dass sie komplizierte Probleme im vorgegebenen Rahmen beziehungsweise nach vordefinierten Regeln unvergleichlich effizient und fehlerfrei lösen können. Dies würde gemeinhin als „Intelligenz“ verstanden. Aber eine solche Intelligenz reiche nicht aus, um die Welt zu beherrschen. Hierfür brauche es Verrücktheit, die Lust etwas auszuprobieren und Regeln zu brechen.
Lernen ist wichtig, aber nicht entscheidend – das Konzeptdenken macht den Unterschied!
Und wie war das mit dem Lernen? Lernen sei gut, erläutert Henning Beck, aber nichts Besonderes in der Natur. Das „Verstehen“ sei der entscheidende Punkt, der uns Menschen die Fähigkeit gibt, neue Ideen zu generieren, und uns vom Computer unterscheidet. Aus dieser Perspektive seien Computer genauso dumm wie vor 50 Jahren – nur „schneller dumm“.
Dass das Verstehen beziehungsweise Konzept- oder Kategoriendenken wiederum nicht nur wenigen ausgewählten Menschen vorbehalten ist, zeigt Beck anhand eines praktischen Beispiels. So hätten wir alle eine Vorstellung davon, was ein „Brexit“ ist, ohne dass dieser Begriff jemals eindeutig definiert wurde. Und wer dieses Konzept einmal verstanden hat, könnte auch mit Begriffen wie Schwexit, Fraxit oder Spaxit genauso wie mit Bremain oder Breturn umgehen – ohne jemals davon gehört zu haben.
Neurowissenschaftliche Erkenntnisse untermauern moderne Innovationsansätze
Um auf neue Ideen zu kommen, so schlussfolgert Beck, brauche man keine neuen Kreativitätstechniken. Vielmehr sollte man seine Energie darauf verwenden, zu verstehen beziehungsweise zu erklären, um was es geht. Ideen entständen schließlich aus dem Austausch von Gedanken zwischen verschiedenen Menschen (ein gemeinsames Verständnis des Problems vorausgesetzt).
Letztlich liefert Beck an dieser Stelle eine neurowissenschaftliche Erklärung für moderne Managementkonzepte und Innovationsansätze. So untermauert er die Bedeutung des vieldiskutierten „Why“ als Grundlage für ein „gemeinsames Verständnis“ in den Unternehmen. Um darauf aufbauend neue Ideen über das „How“ und „What“ zu kreieren, sei es notwendig, den Austausch zwischen den Menschen wirksam zu unterstützen.
Mehr noch: Zum Schluss seines Vortrages plädiert Beck für eine neue Fehlerkultur, in deren Rahmen die Angst vor Fehlern genommen und Denkbrüche provoziert werden. „Machen statt perfekt machen“ solle dabei den Leitsatz bilden. Denn Fehler seien der Start zu einer neuen Perspektive. Eine Angst vor Fehlern sei in unseren Gehirnen nicht vorprogrammiert, dies ließe sich gut an Kindern beobachten. Vielmehr werden solche Ängste erlernt. Doch wer ständig versuche fehlerlos zu bleiben, kommt nicht vom Fleck – und muss sich letztlich mit den Bots messen.
Wir Menschen, so sein Credo, sind der künstlichen Intelligenz voraus, gerade weil wir langsam und fehlerhaft sind. Auf diese Weise „verstehen“ wir schließlich die Welt, anstatt sie nur zu analysieren. Und diesen Vorteil, der in unserem Konzeptdenken begründet liegt, sollten wir würdigen und nutzen.
Credo: Menschen sind prädestiniert dafür, mit Komplexität umzugehen
Zum Abschluss des vorherigen Beitrags plädierte ich dafür, dass sich Unternehmen und Politik stärker auf die Begleitung der anstehenden Jobveränderungen fokussieren, anstatt über einen großflächigen Jobabbau zu spekulieren. Henning Becks Ausführungen liefern wertvolle Hinweise, wo bei dieser aktiven Begleitung angesetzt werden kann. Die Stichworte lauten: ein gemeinsames Verständnis schaffen, Austausch fördern, Fehlerkultur.
Mehr noch: Der Neurowissenschaftler führt die oft geäußerte Meinung beziehungsweise Befürchtung, dass nur ein (kleiner) Teil der Menschen in der Lage sei, mit der zunehmenden Komplexität umzugehen, (anhand des „Brexit-Beispiels“) ad absurdum. Gut so! Denn auch bei dieser Einschätzung handelt es sich meines Erachtens schlussendlich um einen Mythos. Tatsächlich organisieren die meisten Mitarbeiter in ihrem Privatleben ein Familienleben, navigieren selbstständig Fahrzeuge und setzen sich mit wechselnden bürokratischen Verordnungen auseinander. Warum sollten sie also nicht in der Lage sein, im Unternehmen komplexe Problemstellungen zu bearbeiten?!
Vielleicht fragen wir uns umgekehrt in einigen Jahren einmal verwundert, wie jemals Menschen „ähnlich einem Computer“ mit eintönigen Beschäftigungen betraut und ihnen dabei auch noch die Arbeitszeiten und -orte vorgeschrieben werden konnten. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass dieses Szenario dann ähnlich angsteinflößend empfunden wird wie heute der „Mythos vom Ende der Arbeit“.
Lesen Sie auch:
- Der Mythos vom Ende der Arbeit (1): Studien und Medienecho
- Der Mythos vom Ende der Arbeit (2): Einblicke in die Praxis
Anmerkung: Dr. Andreas Stiehler hat bisher regelmäßig für das QSC-Themenblog „Digitales Wirtschaftswunder“ geschrieben. Wir freuen uns, dass er jetzt auch im Corporate Blog von QSC publiziert. Über die Auswahl und Analyse der Inhalte seiner Blog-Beiträge entscheidet der renommierte Analyst selber.
Drucken