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Publiziert am 27. November 2019 von unter: ,

Kuhstall 4.0 (2): Digitalisierung ist wie Operation am offenen Herzen

Mann mit Tablet im Kuhstall

Durch die Digitalisierung wird der Melker zum Herdenmanager. Bild: © tomazl / Getty Images

Der digitale Wandel gleicht in vielen mittelständischen Unternehmen einer Operation am offenen Herzen. Außerdem riskiert man, sich dabei zunehmend von der Performance und Servicebereitschaft der Digitalanbieter abhängig zu machen. Dies gilt auch und insbesondere in der Landwirtschaft – zum Beispiel für die Errichtung eines Kuhstalls 4.0, um den es in diesem Bericht geht. Die Essenz daraus: Nicht nur die Kunden, auch die Hersteller und Dienstleister müssen sich wandeln.

In einer zweiteiligen Beitragsreihe schreibt Dr. Andreas Stiehler, der als freiberuflicher Analyst, Berater und Autor unter anderem für teknowlogy | PAC tätig ist, über die Erfahrungen eines befreundeten Agrarmanagers bei der Einrichtung eines so genannten „Kuhstalls 4.0“. Während im ersten Teil die Beweggründe und Chancen des digitalen Wandels für das mittelständische Landwirtschaftsunternehmen diskutiert wurden, fokussiert dieser zweite Teil auf die Herausforderungen und Risiken.

 

Die Umstellung zum Kuhstall 4.0 rührt am Kerngeschäft und birgt neue Herausforderungen

Der ambitionierte Stallumbau, über den im ersten Teil der Beitragsserie berichtet wurde, zeigte sich bislang als eine Erfolgsgeschichte. Die baulichen Maßnahmen wurden vorzeitig abgeschlossen und die Tiere nahmen, entgegen aller anfänglichen Befürchtungen, die neue Anlage problemlos an. Doch die eigentliche Transformation stand bei Abschluss der Umbaumaßnahmen noch bevor. Besonders zwei Themen machten meinem Freund ab diesem Zeitpunkt zu schaffen: die Zusammenarbeit mit dem für die technische Wartung zuständigen Dienstleister und die Neugestaltung der Abläufe.

Der digitale Wandel im Kuhstall, so wurde mir bei den weiteren Schilderungen meines Freundes bewusst, gleicht einer Operation am offenen Herzen. Die Milchproduktion, das Herzstück des Unternehmens, kann schließlich nicht für einige Tage ausgesetzt werden. Die täglichen Umsätze aus der Milch sind essenziell für die Liquidität des Unternehmens. Zudem wirkt sich jede Störung im Betrieb nachhaltig auf die Leistung der sensiblen Tiere aus.

Gleichzeitig steigen die Anforderungen für die Wartung. Die Zeitfenster für die Identifikation und Behebung von Störquellen sind in einem Kuhstall 4.0 deutlich kleiner als in einem herkömmlichen Stall. Die Melktechnik in dem vollautomatischen System soll schließlich nicht mehr nur zu den üblichen Melkzeiten, sondern durchweg (24 Stunden an 7 Tagen) zur Verfügung stehen. Gleichzeitig gestaltet sich in dem hochvernetzten System die Fehleridentifikation und ‑behebung deutlich schwieriger.

 

Eine Auslagerung des technischen Betriebs ist sinnvoll, führt aber zu neuen Abhängigkeiten

Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass der Landwirtschaftsbetrieb die Verantwortung für den technischen Betrieb der Anlage (1st- und 2nd-Level-Support) in die Hände eines Profis – in diesem Fall des IT-Händlers (neudeutsch: einem Value-Added Reseller oder VAR) – legte. Allerdings zeigte sich sehr bald, dass die Mitarbeiter des Händlers mit dem neuen System selbst noch nicht vertraut waren, schließlich handelte es sich ja um ein Pilotprojekt. Eskalationen waren damit vorprogrammiert.

Welch dramatische Risiken mit der Auslagerung des Betriebs einhergingen, wurde spürbar, als ein Mangel in der Kühlung, dessen Ursachen von den Mitarbeitern des Händlers erst sehr spät erkannt und behoben wurden, zu einer Erhöhung der Keimzahl in der Milch führte. Es drohte eine mehrwöchige Sperrung durch die Molkerei, in deren Folge der Betrieb die täglichen Einnahmen verloren hätte und in einen ernsthaften Liquiditätsengpass geschlittert wäre.

Die Risiken waren jedoch ungleich verteilt: Während der Händler nur einen Erlösausfall zu befürchten hatte, stand für den Landwirtschaftsbetrieb die wirtschaftliche Existenz auf dem Spiel.

Dass es zu Umstellungsproblemen kommen würde, ahnte mein Freund bereits im Vorfeld. Was ihn jedoch enttäuschte beziehungsweise regelrecht auf die Palme brachte, war der (zunächst) nur wenig ausgeprägte Service-Gedanke auf Seiten des Dienstleisters. Dessen Mitarbeiter taten weiter Dienst nach Vorschrift oder hielten sich mit Schuldzuweisungen auf, während das System bereits zu kollabieren drohte. Mehr noch: Die technischen Anlagen wurden nur nachlässig gewartet, was bei einem hochsensiblen automatischen System, das in einem dynamischen Umfeld (Kuhstall) eingesetzt wird, zwangsläufig Probleme nach sich zieht. In der Folge kam es zu zahlreichen weiteren Störungen im Betriebsablauf, was die Milchleistung beeinträchtigte und erhebliche Mehrarbeit für die zur Zeit der Umstellung ohnehin überlasteten Mitarbeiter schuf.

Die Digitalisierung in landwirtschaftlichen Betrieben ist notwendig, aber auch mit einigen Herausforderungen verbunden. Bild: © Andreas Stiehler.

Die Digitalisierung in landwirtschaftlichen Betrieben ist notwendig, aber auch mit einigen Herausforderungen verbunden. Bild: © Andreas Stiehler.

Erst eine detaillierte Dokumentation der technischen Mängel und der Anruf beim Hersteller, welcher bei Versagen des Referenzprojektes um sein Renommee fürchten musste, brachten Besserung.

 

Digitaler Wandel braucht Vertrauen: Eine vollständige Kontrolle ist unmöglich

Diese zwischenzeitliche Ohnmachtserfahrung steckt meinem Freund heute noch in den Knochen. War er zu blauäugig? Vielleicht. Unternehmen, die vor ähnlichen Herausforderungen stehen, würde er heute raten, bereits in die Verträge mit den Dienstleistern Strafzahlungen bei nicht oder mangelhaft erbrachter Leistung einzubauen sowie die Leistungen von Beginn an sauber zu dokumentieren. Darüber hinaus sollte man aus seiner Sicht auch darüber nachdenken, einen unabhängigen Berater zu engagieren, der den Prozess der Ausschreibung und Zusammenarbeit begleitet.

Der eine oder andere erfahrene Outsourcing-Berater wird sich an dieser Stelle ob der vermeintlichen Naivität des Betriebes bei der Gestaltung des Outsourcing-Vertrags mit dem Dienstleister vielleicht die Haare raufen. Allerdings sollte er sich an dieser Stelle auch bewusst machen, dass eine umfassende Governance der Outsourcing-Beziehung den ohnehin immensen Aufwand (und die damit verbundenen Kosten) noch einmal deutlich in die Höhe getrieben hätte. Weiterhin sollte er berücksichtigen, dass es bislang keine Erfahrungswerte oder gar Standards für solche Vorhaben gab, die als Basis für Strafzahlungen in den Vertrag hätten einfließen können.

Und selbst wenn dies der Fall gewesen wäre: Der Kuhstall 4.0 wurde nicht auf der grünen Wiese errichtet. Das Gelingen eines solchen Projektes erfordert, dass Hersteller und Dienstleister willens und in der Lage sind, sich flexibel auf die Unwägbarkeiten vor Ort einzustellen. Vertraglich allein lässt sich dies kaum lösen. Um als Kunde unter diesen Umständen die Kontrolle zu behalten, so meint mein Freund heute, müsste man sich noch tiefer in die Technologie einarbeiten. Aber wer aus seinem Betrieb wäre hierzu in der Lage? Spezialisten, die über entsprechendes Wissen verfügen, sind kaum verfügbar und noch dazu teuer.

Immerhin: Der Betrieb meines Freundes hat Glück gehabt und die kritische Phase der technischen Umstellung überstanden, das System läuft heute stabil und die Differenzen mit dem Dienstleister scheinen vorerst überwunden.

 

Vom Melker zum Herdenmanager: Lernen wird zum täglichen Bestandteil der Arbeit

Und wie steht es mit den Menschen, die in seinem Betrieb arbeiten? Der Druck auf die Belegschaft, betont mein Freund, war immens. Insbesondere sein Stallleiter war in dem Jahr der Umstellung über Gebühr gefordert. Auf der einen Seite agierte er als Ansprechpartner (und Kontrolleur) für die Mitarbeiter des Dienstleisters, auf der anderen Seite sollte er für reibungslose Abläufe sorgen und den eigenen Leuten zur Seite stehen.

Gab es Ängste auf Seiten der Mitarbeiter? Ja, räumt er ein, aber nicht vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, wie man zunächst meinen könnte. Die Mitarbeiter hatten schließlich sein Wort, dass es mit dem Stallumbau zu keinen Entlassungen kommen würde. Und sie konnten sich darauf auch verlassen: Als Leiter eines Landwirtschaftsbetriebes, der im ländlichen Raum angesiedelt und verankert ist, kann man sich keinen Wortbruch erlauben.

Allerdings befürchteten viele Mitarbeiter, die neue Technik und die damit verbundenen Änderungen im Betriebsablauf nicht beherrschen zu können. Viele hatten Scheu, den Touchscreen zu bedienen – aus Angst, irgendetwas verkehrt zu machen. Zudem wurden mit dem Stallumbau Routinen, die mehrere Jahrzehnte bestanden und laufend weiterentwickelt wurden, komplett aufgebrochen. Die langjährigen Melker mutierten über Nacht zu Herdenmanagern – sollten also eine Tätigkeit ausführen, für die es zum Teil bis heute noch keine vordefinierten Abläufe gibt.

„Wir sind selbst gerade erst dabei, die Mechanismen eines datenbasierten Herdenmanagements zu erkennen“, räumt mein Freund ein. Bis zum Zeitpunkt der Umstellungen gab es schließlich noch keinerlei Erfahrung für eine genaue Interpretation der Messwerte, die von dem System in Form von „Alarmlisten“ für gefährdete Tiere ausgegeben wurden. Unklar war bis dahin auch, welche Gegenmaßnahmen idealerweise ergriffen werden sollten, um eine Erkrankung der Kuh beziehungsweise eine Gefährdung der gesamten Herde zu verhindern. Kurzum: Es war ein Sprung ins kalte Wasser.

Ein digitalisierter Milchtank ist wichtiger Bestandteil des Kuhstalls 4.0. Bild: © Andreas Stiehler.

Ein digitalisierter Milchtank ist wichtiger Bestandteil des Kuhstalls 4.0. Bild: © Andreas Stiehler.

Ich kann vor diesem Hintergrund gut nachvollziehen, dass mein Freund auf eine vorherige Schulung der Mitarbeiter bewusst verzichtete. Fertige Abläufe gab es schließlich noch nicht und theoretische Erklärungen im Vorfeld sind wenig effektiv. Der Umbau erforderte letztlich ein „Learning by Doing“ von jedem Beteiligten. Und ein Ende des Lernprozesses ist nicht in Sicht. Die Reise, die das Unternehmen mit der Errichtung des neuen Kuhstalls eingeschlagen hat, so betont er abschließend, hat gerade erst begonnen.

 

Fazit: Nicht nur die Kunden, auch die Digitalanbieter müssen sich wandeln

Die Evangelisten der Digitalisierung klagen oft und gerne darüber, dass der Mittelstand hierzulande den digitalen Wandel verpasst oder dass ihm der Mut fehlt, neue Weg einzuschlagen. „Die Technologien sind reif“, tönen die Hersteller. „Lasst die Profis ran“, rufen die Dienstleister. Die Berater wettern derweil über die vermeintlich grassierende Angst der Mittelständler vor dem Kontrollverlust. Aber sind wir uns – ob Technologieanbieter, Dienstleister oder Berater – der Risiken solcher Projekte und damit verbunden auch unserer eigenen Verantwortung wirklich bewusst?

Nach den Schilderungen meines Freundes bin ich mir da nicht mehr so sicher. Ich kann nur den Hut ziehen vor jedem Unternehmen, das sich auf eine solche Reise ins Ungewisse einlässt. Der Kuhstall 4.0 im Fokus dieses Berichtes steht stellvertretend für ambitionierte digitale Vorhaben, die den Kern des Geschäftsbetriebe berühren. Um bei einer solchen „Operation am offenen Herzen“ noch die Kontrolle zu behalten, haben viele große Unternehmen mittlerweile in den kostspieligen (Wieder-)Aufbau eigener IT-Kapazitäten investiert. Aber wie gehen die Mittelständler mit den damit einhergehenden Risiken um? Der Digitalisierungstrend – so scheint mir – taugt dazu, den Strukturwandel in der Landwirtschaft (ebenso wie in anderen Branchen) zu Gunsten der großen Akteure weiter zu beschleunigen.

Technologiehersteller, Dienstleister und Berater machen sich nicht umsonst für den digitalen Wandel im Mittelstand stark, sie verdienen selbst kräftig mit. Um dieses Geschäft aber nachhaltig zu entwickeln, so verdeutlicht der Bericht des Agrarmanagers, sollten sich die Digitalanbieter zunächst selbst wandeln. Die mittelständischen Kunden brauchen schließlich keine Erfüllungsgehilfen, sondern strategische Partner, die willens und in der Lage sind, integrierte Gesamtlösungen zu errichten beziehungsweise zu betreiben, und sich dabei auf die Unwägbarkeiten vor Ort einzulassen (siehe auch Teil 1 des Berichts). Eine ausgeprägte Service-Mentalität (bei jedem einzelnen Mitarbeiter), die mein Freund so schmerzlich vermisste, ist grundlegend, um sich dauerhaft in diesem Geschäft zu behaupten.

 

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