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Zwischenruf im Echoraum: Renaissance der Romantik?!

Allein durch die effiziente Lösung von Problemen mit Einsatz von künstlicher Intelligenz und Automatisierung lässt sich die „Customer & Employee Experience“ nicht optimieren. Die von Tim Leberecht eingeforderte (Rück-)Besinnung auf die Romantik im Geschäftsleben ist vor diesem Hintergrund keine pure Romantik, sondern auch wirtschaftlich sinnvoll.

Romantische Aussichten: Wanderung im Elbsandsteingebirge. © Siegfried Lautenbacher & Andreas Stiehler 2019.

Romantische Aussichten im Elbsandsteingebirge. Bild: © Siegfried Lautenbacher & Andreas Stiehler 2019.

An dieser Stelle kommentiert Dr. Andreas Stiehler, der als freiberuflicher Analyst, Kolumnist und Berater unter anderem für teknowlogy | PAC tätig ist, regelmäßig Web-Beiträge exklusiv für die Leser des QSC-Blogs. Im Fokus dieses Beitrags: „Es ist Zeit für eine romantische Revolution“, Tim Leberecht im Interview mit zukunftsInstitut.

 

Prolog: Auf den Spuren der Romantik(er)

Kurz vor Ostern wanderte ich mit Siegfried Lautenbacher, einem gestandenen Unternehmer, mit dem ich mich bereits seit fast 20 Jahren geschäftlich austausche, auf den Spuren romantischer Maler, Dichter und Komponisten durch das Elbsandsteingebirge. Ein Abenteuer: Drei Tage ließen wir uns vollständig aufeinander ein, teilten das Lager miteinander, schleppten uns gemeinsam über die Felsen, klagten über das Zwicken in Hüfte, Knie und Ferse und genossen dabei eine wunderbare Landschaft. Wir haben menschliche Nähe gewagt und gewonnen – eine im wahrsten Sinne romantische Unternehmung.

 

Effiziente Problemlösungen reichen nicht aus, um Kunden und Mitarbeiter zu beglücken

Diese Erinnerung begleitete mich, als ich mich kurz nach den Osterfeiertagen erstmals mit Tim Leberecht und seiner Forderung nach einer „Revolution der Romantik“ beschäftigte. Den Anlass dafür lieferte mir eine aktuelle Studie von zukunftsInstitut (um Matthias Horx), für die Leberecht als Experte interviewt und in deren Rahmen der „Siegeszug der Emotionen“ proklamiert wurde.

Wanderung im Elbsandsteingebirge. © Siegfried Lautenbacher & Andreas Stiehler 2019.

Naturerlebnisse sind oft emotional. Welche Bedeutung haben Emotionen im Geschäftsleben? Bild: © Siegfried Lautenbacher & Andreas Stiehler 2019.

Falls Ihnen bei dieser Verlautbarung („Siegeszug der Emotionen“) das Sprichwort vom „alten Wein in neuen Schläuchen“ in den Sinn kommt – mir ging es zunächst ebenso. Dass im Zuge des (digitalen) Wandels eine Rückbesinnung auf die Menschen und deren Gefühle notwendig erscheint, ist schließlich kein ganz neuer Gedanke. Tatsächlich gibt es mittlerweile tonnenweise Artikel, welche über die Bedeutung von Emotionen im Geschäftsleben dozieren. Ich selbst diskutierte im Rahmen dieser Kolumne verschiedene Beiträge, die sich unter anderem mit der Verbesserung der „Customer & Employee Experience“ ebenso wie mit den Sorgen von Mitarbeitern und Ängsten von Managern im Zuge des digitalen Wandels auseinandersetzen.

Aber ist damit zur Rolle der Emotionen im Geschäftsleben wirklich schon alles gesagt? Ich denke nicht. Vielmehr – so meine Wahrnehmung – bewegt sich die Diskussion zumeist noch auf einer eher technischen Ebene. Wir meinen: Je schneller und effektiver wir die Probleme der Menschen lösen, desto besser ist auch deren „Experience“.  Aber ist dem wirklich so? Die Publikationen von zukunftsInstitut zum Thema Emotionen, und hierbei insbesondere das Interview mit Tim Leberecht, haben mich zum Nachdenken gebracht.

So gilt Amazon gemeinhin als Paradebeispiel für Kundenfreundlichkeit. Ich selbst nutze den Service schon länger, emotional berührt hat er mich jedoch noch nie. KI und Automatisierung verschaffen uns durch eine schnelle und effektive Lösung von Problemen mehr Freiraum – der aber nicht gefüllt wird. Klar, wir könnten die von den digitalen Plattformen generierten (finanziellen und zeitlichen) Freiräume nutzen, um noch mehr zu konsumieren, zu kommunizieren und zu arbeiten – in der Hoffnung, hier und da ein Glücksgefühl zu erhaschen. Das erinnert aber eher an Suchtverhalten, denn an emotionale Entfaltung. Schlussendlich begeben wir uns in ein Hamsterrad, das mit menschlicher Erfahrung wenig gemein hat und in dessen Verlauf die Abhängigkeit von den Algorithmen immer weiter zunimmt.

 

Wanderung im Elbsandsteingebirge. © Siegfried Lautenbacher & Andreas Stiehler 2019.

Eine romantische Revolution wird gefordert als Gegenentwurf zur Hypereffizienz, die aus der Digitalisierung folgt. Bild: © Siegfried Lautenbacher & Andreas Stiehler 2019.

Das Romantische als Quintessenz des Menschen im digitalen Zeitalter

An dieser Stelle setzt Tim Leberechts Forderung nach einer romantischen Revolution an. Das „Romantische“ sei es schließlich, was uns Menschen von den Algorithmen unterscheide beziehungsweise Unternehmen als Marke noch unterscheidbar mache. Konkret sagt er im Interview: „Wenn alles, was effizient gemacht werden kann, von Maschinen noch effizienter gemacht werden wird, dann wird die wichtigste Arbeit für uns Menschen die sein, die schön gemacht werden muss – mit Hingabe, Fantasie, Intuition, Einfühlungsvermögen und Leidenschaft.“

Unternehmen, so seine Sicht, sollten einen Gegenentwurf zu der mit dem KI- und Automatisierungstrend einhergehenden Hypereffizienz, Transparenz und Berechenbarkeit schaffen, indem sie „den empfindlichen Einschnitten in unsere menschliche Autonomie eine neue Empfindsamkeit entgegensetzen […] und Künstlicher Intelligenz mit künstlerischer Intelligenz begegnen.“

 

Weltenwandler gesucht: „Romantische Revolution“ und Digitalisierung bedingen einander

Tim Leberecht bezeichnet sich zwar als „Romantiker“, er ist aber nicht naiv oder gar wirtschafts- beziehungsweise technologiefeindlich eingestellt. Im Gegenteil: Der Marketing- und Managementexperte – so kann man bei Wikipedia nachlesen – verbrachte eine geraume Zeit seiner Karriere im Silicon Valley und war dort selbst über viele Jahre in führenden Posten in der Wirtschaft, unter anderem als CMO von frog, tätig. Die von ihm gegründete „The Business Romantic Society“ führt namhafte Konzerne wie Airbus, Otto, Vitra oder T-Systems als Kunden.

Wanderung im Elbsandsteingebirge. © Siegfried Lautenbacher & Andreas Stiehler 2019.

Business-Romantik nicht als Gegensatz, sondern als Ergänzung der Digitalisierung. Bild: © Siegfried Lautenbacher & Andreas Stiehler 2019.

In einem Videointerview für W&V skizziert er sehr anschaulich, welchen Anspruch er an sich stellt. Als Marketing-Fachmann sollte man sich demnach als „Weltenwandler“ verstehen und versuchen, die extremen Enden der verschiedenen Welten zu bespielen. Er plädiert nicht für mehr Romantik anstatt Technologie, sondern für ein „sowohl als auch“: Datenanalyst und Künstler, virtuelle und reale Welt, künstliche und menschliche Intelligenz. Aus dieser Perspektive verstehe ich auch seine Forderung nach mehr Business-Romantik nicht als Alternative, sondern eher als sinnvolle Ergänzung von Digitalisierungsstrategien.

 

Drei (von zehn) „Regeln für Business-Romantiker“

In einem Vortrag zur Frage „Warum wir in Zukunft romantisch arbeiten werden“, der als Video zur Verfügung steht, erläutert er, wie sich „romantische“ Business-Ansätze in der Praxis umsetzen lassen. Drei von zehn „Regeln für Business-Romantiker“, die in seinem Buch „Business-Romantiker“ vorgestellt werden, führt er anhand praktischer Beispiele im Vortrag näher aus:

  • Finde das Große im Kleinen. Dem Gefühl der Einsamkeit begegne man nicht am besten mit vielfältigen Vernetzungsangeboten, sondern mit Intimität. Es gehe um „thick presence“ – also darum, sich auf den Mensch gegenüber einzulassen und ihm die volle Aufmerksamkeit zu widmen – ob bei einem Abendessen oder in einem ausführlichen Kundengespräch. Das Große im Kleinen ließe sich aber auch entdecken, indem man der digitalen Fülle ein auf das Wesentliche reduziertes Angebot gegenüberstelle. Als Beispiel hierfür benennt er einen Buchladen in Japan, der pro Monat nur ein ausgewähltes Buch anbiete.
  • Hüte das Geheimnis. Die heutige Wirtschaft feiert die Vorhersagbarkeit der Welt als Grundlage für den Ausbau der Kundenfreundlichkeit. Aber ist eine vorhersagbare Welt auch menschlich? Tatsächlich lieben es Menschen, überrascht zu werden, und sind dafür auch bereit, einen Preis zu zahlen – ob für ein Überraschungspaket, die Vorstellung geheimnisvoller Orte oder das Schauen von Filmen, deren Titel im Vorfeld nicht bekannt ist. Wissen sei Macht, führt er aus, aber „nicht zu wissen ist die mächtigere Erfahrung“ – und daher auch aus wirtschaftlicher Sicht hochinteressant .
  • Leide (ein bisschen). Trotz komfortabler E-Commerce- und Entertainment-Angebote liebten es Menschen, vor Apple-Läden zu biwakieren oder zum Anfeuern von Radrennfahrern auf höchste Gipfel zu klettern. Das damit einhergehende Leiden vergrößere die Erfahrung nur. Man solle als Unternehmen deshalb keine Furcht haben, die Kunden auf den Weg zu einer positiven Erfahrung ggf. auch einmal etwas leiden zu lassen.
Wanderung im Elbsandsteingebirge. © Siegfried Lautenbacher & Andreas Stiehler 2019.

Konventionen der digitalen Welt hinterfragen, Mitmenschen mit Gefühlen zu bereichern. Bild: © Siegfried Lautenbacher & Andreas Stiehler 2019.

An dieser Stelle bin ich wieder bei der Wanderung im Elbsandsteingebirge. Ja, Leiden war auch dabei, ebenso wie die von Leberecht eingeforderte „thick presence“. Gut auch, dass nicht jeder Höhenmeter und jeder schöne Blick von Vornherein ersichtlich war und so ein Stück des Geheimnisses dieser Landschaft trotz digitaler Vermessung bislang noch gewahrt bleibt. Denn am Ende stand so ein unvergessliches gemeinsames Erlebnis, das deutlich tiefer in Erinnerung bleibt als unsere zahlreichen Konversationen über soziale Medien zuvor – die pure Romantik eben.

 

Grundprinzip: Konventionen der digitalen Welt hinterfragen, Tabubrüche wagen

Tim Leberechts „Regeln für Business-Romantiker“ folgen letztlich einem einfachen Muster: Im Kern geht es darum, Konventionen der durchökonomisierten Welt auf den Kopf zu stellen, also der über die Digitalisierung forcierten Effizienz, Transparenz, Angebotsfülle, Geschwindigkeit und Berechenbarkeit einen radikalen Entwurf entgegenzusetzen und so die Mitmenschen (ob Kunden, Mitarbeiter oder Partner) und auch sich selbst zu beschenken, zu überraschen und mit Gefühlen zu bereichern.

Im Vortrag spricht der Marketing- und Management-Experte selbst von:

  • Flüchtigkeit statt Dauerhaftigkeit
  • Einzigartigkeit statt „Scale“
  • Mehrdeutigkeit statt Klarheit
  • Zufall statt Berechenbarkeit
  • Großzügigkeit statt Effizienz
  • Emotion statt Logik
  • Abenteuer statt Sicherheit
  • Subjektivität statt objektiver Wahrheit
  • Sehnsucht statt Erfüllung
  • „Un-Quantified Self“ statt „Quantified Self“

In einem lesenswerten Blogartikel beschreibt er detailliert, wie sich durch kleine Tabubrüche nach diesem Muster der Arbeitsalltag romantischer gestalten lässt.

 

Wanderung im Elbsandsteingebirge. © Siegfried Lautenbacher & Andreas Stiehler 2019.

Rückbesinnung auf das Menschliche dient der Produktivität. Bild: © Siegfried Lautenbacher & Andreas Stiehler 2019.

Credo: „Business-Romantik“ als Produktivitätsmotor und Umsatzquelle

Aber funktioniert das Ganze auch für das Big Business? „Der Return on Investment für Romantik ist mehr Romantik“, führt Tim Leberecht zunächst aus. Aus meiner Sicht ist dies eine wunderbare Aussage, die aber die Krämerseelen in den Unternehmen nur wenig befriedigen dürfte. Deshalb argumentiert der Autor im Vortrag auch mit konkreten Fakten. In Erinnerung ist mir das Ergebnis einer Gallup-Umfrage, die eine positive Korrelation zwischen Mitarbeiterzufriedenheit und Produktivität belegt – und gleichzeitig vermerkt, dass nur 30 Prozent der Mitarbeiter voll bei der Sache sind.

Kurzum: Wer als Unternehmen das Produktivitäts- und Innovationspotenzial in unserer immer komplexeren Umwelt heben will, der sollte sich nicht ausschließlich, aber auch der Romantik öffnen. Gleiches gilt für Unternehmen, die nach neuen Umsatzquellen in der durchdigitalisierten Welt suchen. Durch die Nutzung von Amazon, Uber & Co. entsteht den Kunden finanzieller Spielraum – gleichzeitig steigt der Bedarf nach emotionaler Entfaltung, der von den Plattformen nicht gedeckt wird.  Ein neuer Markt für die Rückbesinnung auf das Menschliche entsteht – ein schöner, aber keineswegs nur romantischer Gedanke.

 

Anmerkung: Dr. Andreas Stiehler hat bisher regelmäßig für das QSC-Themenblog „Digitales Wirtschaftswunder“ geschrieben. Wir freuen uns, dass er jetzt auch im Corporate Blog von QSC publiziert. Über die Auswahl und Analyse der Inhalte seiner Blog-Beiträge entscheidet der renommierte Analyst selber.

 

 

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