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Publiziert am 23. April 2018 von unter: ,

Zwischenruf im Echoraum: Wird Ambidextrie zum neuen Mantra?!

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Bild: @istock.com/PeopleImages

Die Fähigkeit, sowohl das Kerngeschäft zu sichern als auch bahnbrechende Innovationen auf den Weg zu bringen, ist zunehmend erfolgskritisch. Das Thema verdient es, tiefgreifend(er) diskutiert zu werden. Mut zum Risiko oder die Beachtung moderner Führungsgrundsätze allein reichen hierfür nicht aus.

An dieser Stelle empfehlen und kommentieren Analysten von PAC regelmäßig Web-Beiträge exklusiv für die Leser von Digitales-Wirtschaftswunder.de. Heute im Fokus: „Ambidextrie als Organisationsprinzip – Innovationen und Kerngeschäft verbinden“ von Stephan Grabmeier.

 

Ambi….Was?!

Der digitale Wandel sorgt immer wieder für eigentümliche Wortschöpfungen. Gerade erst haben wir gelernt, dass Ambiguitätstoleranz eine für die digitale Führung unerlässliche Kompetenz ist. Doch schon lauert das nächste Wort-Ungetüm auf uns: die „Ambidextrie“ oder besser noch „organisationale Ambidextrie“.

Das Thema ist nicht gänzlich neu – der Begriff stammt aus der Innovationsforschung, steht für Beidhändigkeit und wurde schon seit den frühen 1990ern diskutiert. Im Zentrum steht die Frage, wie es Unternehmen gelingt, gleichzeitig das Kerngeschäft auszubauen (Exploit) sowie aktiv Innovationen hervorzubringen, die das angestammte Geschäft im Zweifel obsolet machen (Explore).

Ich selbst stieß erstmals bei der Lektüre eines lesenswerten Interviews des Innovationsexperten Prof. Dr. Frank Pillar mit Detecon auf diesen Begriff. Meine Gedanken dazu fasste ich in einem Beitrag mit dem Titel: „Digitalisierungsblues: Gefangen zwischen Effizienzdruck und Agilitätswahn“ zusammen.

 

Nicht nur etablierte Unternehmen, auch Start-ups beschäftigt das Thema

Seither lässt mich das Thema nicht mehr los. Denn wer sich mit den Herausforderungen des digitalen Wandels auseinandersetzt, der gelangt über kurz oder lang zum Thema Ambidextrie – und damit ans Eingemachte. Unternehmen, die angesichts der rasanten Verkürzung der Innovationszyklen im digitalen Wettbewerb (als eigenständige Akteure) bestehen wollen, kommen gar nicht umhin, Explore- und Exploit-Strategien gleichermaßen effektiv zu realisieren.

Dabei ist Ambidextrie nicht nur eine Herausforderung für etablierte Player, sondern auch für Start-ups. Die aktuellen Probleme bei der Produktion des Tesla verdeutlichen dies nur allzu gut. Die Fähigkeit zur beidhändigen Unternehmensentwicklung dürfte schließlich darüber entscheiden, wer bei der Entwicklung digitaler Ökosysteme (Smart Car, Smart Health etc.) letztlich die Nase vorn haben wird.

 

„Ambidextrie“ hält Einzug in die schillernde New-Work-Welt

Vor diesem Hintergrund finde ich es richtig und wichtig, dass das Thema in diesem Jahr erstmals auch auf der New Work Experience, dem von Xing organisierten Großevent zur Zukunft der Arbeit, aufgegriffen wurde. Zunächst wies Janina Kugel, Personalchefin und Mitglied des Vorstandes der Siemens AG, in ihrer Keynote auf dieses Spannungsfeld hin. Schließlich wurde bei einem Panel zum Thema „Organisationale Ambidextrie – wie gelingt Führungskräften die Schizophrenie?“ nach Lösungsansätzen gesucht.

Gut finde ich auch, dass der im HR- und New-Work-Umfeld sehr gut vernetzte Stephan Grabmeier, heute Chief Innovation Officer bei Kienbaum, seine frischen Eindrücke als Teilnehmer der Podiumsdiskussion in einem Artikel für LinkedIn festhielt. Denn so sperrig der Begriff auch klingen mag, die Unternehmen müssen sich des Themas annehmen. Je mehr New-Work-Enthusiasten und HR-Manager um die Herausforderung wissen, desto besser.

 

Gefahr der Verwässerung – auch im diskutierten Beitrag

Der Artikel führt recht gut an das Thema heran, greift meines Erachtens aber noch zu kurz und geht so letztlich auch ein Stück am Kern des Problems vorbei. Bei der Lektüre entsteht der Eindruck, dass Ambidextrie ein reines Führungsproblem sei, das sich mit etwas besserer Kommunikation und guten Konfliktlösungsstrategien beheben lasse. Diejenigen, die meinen, mit diesem sperrigen Begriff würde wieder nur eine neue Sau durchs Dorf getrieben, dürften sich beim Lesen zumindest teilweise bestätigt fühlen.

So heißt es bereits im Eingangstext mit epischem Unterton: „Nur wer den Mut hat, sich selbst zu kannibalisieren und immer wieder neue kreative Lösungen für Kundenbedürfnisse entwickelt, bleibt konkurrenzfähig. Unternehmen, die das Organisationsprinzip der Ambidextrie verwirklichen, haben hier die Nase vorn.“ Ambidextrie, so wird im Anschluss postuliert, sei die „Lösung für den scheinbaren Widerspruch“, der dem Innovator’s Dilemma zugrunde liegt. Ambidextrie also eine Frage des „Mutes“, die „Lösung“ für einen „scheinbaren“ Widerspruch?

Ambidextrie, so führt Stephan Grabmeier weiter aus, gelinge mittelfristig allerdings nur mit einem kontextuellen Ansatz. Volle Zustimmung! Innovation Labs, Accelerators oder schnelle IT-Einheiten (Fast IT), die losgelöst vom Kernunternehmen agieren, mögen den Kick-Start digitaler Initiativen befeuern, doch als dauerhafte Lösung taugen sie nicht. Um Harmonie zwischen Exploit- und Explore-Ansätzen zu gewährleisten, so argumentiert er schließlich, bedürfe es einer etablierten Vertrauenskultur, bei der die Führungskräfte gefordert seien. Danach folgen einige Spiegelstriche mit den bekannten Vokabeln: Eigenverantwortung, gemeinsame Vision, Feedback-Kultur, Mitbestimmung.

 

Das „Innovator’s Dilemma“ bleibt ein Dilemma – Mut allein reicht nicht

Ich bleibe dabei: Stephan Grabmeiers Beitrag enthält viel Richtiges, greift aber noch zu kurz – auch weil er oft nur an der Oberfläche kratzt, wo etwas mehr Tiefe angezeigt wäre. So halte ich die Spannung zwischen Explore und Exploit, die dem Innovator’s Dilemma zu Grunde liegt, nicht für einen scheinbaren, sondern für einen echten Widerspruch. Sonst wäre es auch kein Dilemma. Darüber hinaus bezweifle ich, dass Ambidextrie (allein) eine Lösung hierfür darstellt.

Tatsächlich führt das Innovator’s Dilemma, so zeigt gerade der Artikel, auf den Stephan Grabmeier verlinkt, nicht per se auf eine Vernachlässigung von Forschung und Entwicklung neuer Technologien zurück. Selbst erzkonservative Konzernvorstände wissen, dass neben dem Kerngeschäft an neuen Themen gearbeitet werden muss. So verhielten sich (laut oben genanntem Artikel) viele der gescheiterten, vormals etablierten Unternehmen durchaus richtig im Hinblick auf die Anforderungen ihrer angestammten Kundschaft, mit der wiederum das Gros der Umsätze generiert wird.

Vom Markt gefegt wurden sie dennoch – und dies zumeist von Start-ups, die mit geradezu abenteuerlichen Geschäftsmodellen aufwarteten. So schauen wir heute auf den Erfolg von Amazon, Uber & Co, sollten dabei aber nicht vergessen, dass die weit überwiegende Mehrheit (zirka 90 Prozent) der hippen Start-ups scheitert. Große Venture-Capital-Geber können mit solch einer hohen Ausfallquote leben, es ist Teil ihres Geschäftsmodells. Ein einzelnes Unternehmen aber kann das nicht.

Aus der Forderung nach mehr Mut (wie in der Einleitung von Stephan Grabmeiers Artikel) wird beim Scheitern ambitionierter digitaler Initiativen schnell eine Anklage wegen Verantwortungslosigkeit gegenüber den Stakeholdern und Mitarbeitern. Ambitionierte CEOs von vielfach gefeierten digitalen Vorreitern unter den etablierten Akteuren wie P&G, Lego oder Burburry mussten dies bereits schmerzhaft erfahren. Einen sehr aufschlussreichen Beitrag hierzu, der in der Essenz zu mehr Vorsicht rät, wurde gerade von den Digital-Economy-Vordenkern Thomas H. Ravenport und George Westerman in der Harvard Business Review publiziert.

 

Ambidextrie ist die Losung, aber nicht die Lösung

Nichtsdestotrotz bedarf es einer „Innovationsstrategie, die sich durch Ambidextrie auszeichnet“ – so wie es Detecon als Essenz einer Studie zur Innovationskultur in deutschen Konzernen formulierte. Man kann aber auch wie Accenture Deutschland Chef Axel Riemensperger postulieren: „Ambidexterity heißt die Losung“. Schließlich erscheint sie als einzig gangbarer Weg, um im digitalen Wettbewerb dauerhaft zu bestehen. Doch Ambidextrie ist keine Lösung, die – eben mal schnell implementiert – das Problem löst.

Denn wie die Ambidextrie konkret gestaltet werden sollte, um als Unternehmen schlussendlich dem Innovator’s Dilemma zu entkommen, kann heute niemand mit letzter Sicherheit sagen. In der Geschichte gibt es bislang nur wenige Beispiele für Unternehmen, die einen solch radikalen Wandel erfolgreich bewerkstelligten – zu wenige, um daraus gesicherte und für andere Akteure übertragbare Erkenntnisse abzuleiten. Hinzu kommt, dass das heutige Marktumfeld, zum Beispiel im Hinblick auf die Geschwindigkeit der technischen Entwicklung, nicht mit dem von vor 5, 10 oder 20 Jahren vergleichbar ist.

 

Die Diskussion muss über Führungsgrundsätze hinausreichen

Und da wir die Lösung bislang nicht kennen bzw. es enorm schwierig ist, eine solche zu finden, bleibt Spielraum für Diskussion. Dabei muss ganz sicher das Thema Leadership auf den Tisch, doch die Diskussion sollte noch weiterreichen. Denn in einer Organisation, die sich durch Ambidextrie auszeichnet, sollten sowohl die klassische Linien- als auch die agile Projektorganisation ihre Berechtigung haben. Damit aber sind Spannungsfelder vorprogrammiert, denen sowohl auf kultureller als auch auf organisatorischer Ebene begegnet werden muss.

Eine Vertrauenskultur und offene Kommunikation sind hierbei zentral – zugleich müssen aber auch Verantwortlichkeiten und Entscheidungsbefugnisse neu geregelt werden. So sind heute bereits viele Mitarbeiter sowohl in der Linienorganisation als auch in innovativen Projektteams aktiv – was die Koordination und Zusammenarbeit sowohl in der Linie als auch in den Projekten erheblich erschwert. In Unternehmen mit überschaubarer Größe mag eine flexible Koordination noch auf Zuruf möglich sein. Aber wie gehen Großkonzerne mit den potenziellen Konflikten um?

 

Credo und Ausblick

Vor diesem Hintergrund sollte Stephan Grabmeiers Beitrag als Anlass genommen werden, das Thema auf die Agenda zu heben sowie die Grabenkämpfe zwischen Tayloristen und Agilitätsfanatikern endlich zu beenden. Der Ambidextrie-Quadrant der Haufe-Akademie, auf den zum Schluss des Artikels verwiesen wird, ist sicher eine gute Ausgangsbasis, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen.

Wer aber – ob als Unternehmenslenker, HR-Manager oder New-Work-Enthusiast – dieses Thema praktisch begleiten will, der sollte noch tiefer schürfen. So stieß ich im Rahmen meiner Recherchen für einen aktuellen PAC Market Insight Report zum Thema „Dealing with ambidexterity: strategies against the digital hype“ auf zwei Artikel, die praktische Lösungsansätze für eine Reorganisation der Unternehmen in Richtung Ambidextrie zur Diskussion stellen.

  • In einem Aufsatz für Harvard Business Review unter dem Titel „Accelerate!“ schlägt der Change-Management-Vordenker John P. Kotter einen dualen Organisationsansatz vor und liefert praktische Handlungsempfehlungen für dessen Umsetzung. Ein kurzes anschauliches Video hierzu finden Sie hier. Eine ausführliche Diskussion von John P. Kotters Ansatz in deutscher Sprache bietet u.a. dieser Beitrag auf LinkedIn.
  • Auch Marc Wagner, Manager bei der Unternehmensberatung Detecon, dessen Beitrag zur digitalen Zukunft der Beratung ich in dieser Kolumne bereits diskutierte, bringt sich mit einem „Company-Rebuilding“-Ansatz nach dem Prinzip der Zellbildung und -teilung in die Diskussion ein.

Beide Beiträge sind nicht nur lesens- und bedenkenswert. Sie zeigen auch, dass man Lösungen für die geforderte Beidhändigkeit in der Unternehmensentwicklung ohne eigentümliche Wortschöpfungen diskutieren kann. Ich selbst muss noch etwas daran arbeiten.

Gelegenheit dazu habe ich in einem aktuellen Studienprojekt der Hays AG, das von PAC unterstützt wird. Wir laden Sie herzlich ein, Ihre Erfahrungen zu diesem Thema mit uns zu teilen. Die Ergebnisse aus diesem Projekt werde ich im Herbst bei Digitales Wirtschaftswunder zur Diskussion stellen.

Dieser Artikel erschien ursprünglich auf Digitales-Wirtschaftswunder.de, dem Themenblog der QSC AG

 

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