Fachkräftemangel (1): Mythos oder reale Bedrohung?
Die Frage nach „Mythos oder Realität“ beim Thema Fachkräftemangel mündet letztlich nur in akademischen Grabenkämpfen und hilft praktisch nicht weiter, ebenso wenig wie Schuldzuweisungen an Bildung und Politik. Die Unternehmen sollten besser die neuen Realitäten im Arbeitsmarkt anerkennen und diese zum Anlass nehmen, ihre Personalpolitik neu zu justieren.
In einer mehrteiligen Beitragsreihe kommentiert Dr. Andreas Stiehler exklusiv für die Leser des QSC-Blogs Kernaussagen der aktuellen Hays-Studie zum „Fachkräftemangel in Deutschland“. Für diese Studie, an der er als freiberuflich tätiger Analyst selbst mitwirkte, wurden 1.000 Führungskräfte in deutschen Unternehmen befragt und zahlreiche Expertengespräche durchgeführt. Im Fokus des einführenden Beitrags steht die Wahrnehmung des Fachkräftemangels durch Führungskräfte in deutschen Unternehmen – verbunden mit der Frage: Mythos oder reale Bedrohung?
Verschärfte Situation am Arbeitsmarkt: Die Unternehmen haben ein Problem
Über den Fachkräftemangel lässt sich trefflich streiten. Bedroht er nun den Standort Deutschland oder ist er doch nur ein Mythos? Für die Presse ein gefundenes Fressen: Denn wenn ein Thema kontrovers diskutiert wird, steigen bekanntlich die Klickzahlen. Kein Wunder, dass im Wochenrhythmus neue Schlagzeilen zum Thema durch die Medienlandschaft geistern – mal panisch warnend (Bedrohungsszenario für den Standort Deutschland!), mal cool abwiegelnd (… doch nur ein Mythos).
Tatsächlich gibt es zu diesem Thema bereits eine große Menge an Zahlen und Fakten, die zumindest auf Makroebene zu einer Versachlichung der Diskussion beitragen können. So deuten die steigende Anzahl der offenen Stellen (im Vergleich zur Anzahl der Arbeitslosen) ebenso wie die zunehmenden Zeiten für die Besetzung offener Stellen (Vakanz) – wie von der Bundesagentur für Arbeit (BA) oder dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IBA) festgestellt – auf eine Verschärfung des Wettbewerbs und sich ändernde Kräfteverhältnisse im Arbeitsmarkt hin. Ein flächendeckender Fachkräftemangel lässt sich nach dieser Faktenlage zwar nicht konstatieren, wohl aber Engpässe in bestimmten Berufsfeldern.
Diese Engpässe dürften sich in den nächsten Jahren noch ausweiten – und in diesem Zuge auch auf weitere Berufsfelder überschwappen. Dafür spricht insbesondere die demografische Entwicklung: mit den Babyboomern, die kurz vor der Rente stehen und den danach folgenden geburtenschwachen Jahrgängen. Demgegenüber steht zwar eine zunehmende Erwerbstätigkeit der Frauen und eine längere Lebensarbeitszeit der Beschäftigten. Doch selbst wenn Frauen und Männer zukünftig gleich viel und bis zum 70. Lebensjahr arbeiteten, würde laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung eine jährliche Zuwanderung von 260.000 Menschen benötigt, um das Angebot an Arbeitskräften stabil zu halten.
Ein vermeintliches „Ende der Arbeit“ durch Digitalisierung und Automatisierung, in dessen Folge die Engpässe am Arbeitsmarkt obsolet würden, scheint dagegen nicht in Sicht. In einer mehrteiligen Beitragsreihe diskutierte ich bereits, dass sowohl die Studienlage als auch praktische Erfahrungen und Erkenntnisse der Neurowissenschaften gegen diese These sprechen.
Kurzum: Die Unternehmen hierzulande stehen vor einem Problem, ganz gleich, ob man es nun als Fachkräftemangel, -engpass oder -lücke benennt. Die Kräfteverhältnisse im Arbeitsmarkt haben sich verändert, und sie werden sich nach allem Dafürhalten weiter zugunsten der Fachkräfte verschieben.
Der Engpass an Fachkräften ist in der Praxis spürbar
Mit dieser Meinung bin ich nicht allein: Die überwiegende Mehrheit der Führungskräfte hierzulande, so zeigt die aktuelle Hays-Studie, stuft die verschärfte Situation am Arbeitsmarkt als kritische und strukturelle Herausforderung für die gesamte Wirtschaft ein – und erteilt damit Auguren, welche den Fachkräftemangel eher als konjunkturelles Problem betrachten, das nur einzelne Branchen und Regionen betrifft, eine deutliche Absage.
Die Einschätzungen der Befragten lassen sich auch nicht allein auf aufgebauschte Medienberichte zurückführen, sie rühren vielmehr aus eigenem Erleben. Denn die Folgen der verschärften Situation am Arbeitsmarkt – dies ist ein weiteres zentrales Ergebnis der Studie – sind heute bereits in vielen Unternehmen spürbar. Viele Verantwortliche berichten an dieser Stelle von einer steigenden Mehrbelastung der Mitarbeiter bis hin zu Umsatzausfällen.
Prof. Dr. Gunther Olesch, CHRO bei Phönix Contact und im Vorstand der Arbeitgebervereinigung in Ostwestfalen-Lippe, findet vor diesem Hintergrund im Expertengespräch klare Worte in Richtung der Skeptiker:
„Wer den Fachkräftemangel dennoch als Mythos bezeichnet, kennt meiner Ansicht nach die Praxis nicht. […] Diese Entwicklung spüren wir ebenso in unserem Unternehmen, obwohl wir mehrfach als bester Arbeitgeber Deutschlands ausgezeichnet wurden, bei Plattformen wie kununu super Bewertungen bekommen und so noch vergleichsweise viele Bewerbungen erhalten.“
Prof. Oleschs Einschätzung ist nachvollziehbar, sie wird – in ähnlicher Form – von den meisten der im Rahmen der Studie befragten Experten geteilt.
Mythos Fachkräftemangel?! Hauptargument der Skeptiker: die Untätigkeit der Unternehmen
Allerdings lohnt es sich, auch die andere Seite zu hören. So sprach ich im Rahmen der Studie unter anderem mit Martin Gaedt, dem Autor des Buchs „Mythos Fachkräftemangel“. In der Diskussion mit ihm wurde mir deutlich, dass die vermeintlichen Skeptiker des Fachkräftemangels weniger das Problem an sich verkennen, als vielmehr die Starrheit der Unternehmen bei der Reaktion darauf anprangern.
So hält Gaedt den Fachkräftemangel als Bedrohungsszenario zwar „eindeutig für einen Mythos“, räumt zugleich aber ein, dass sich der Wettbewerb um die Fachkräfte in den letzten Jahren verschärft hat. Diese Situation stelle aus seiner Sicht allerdings keine Bedrohung dar, vielmehr meint er: „Gut so! Denn damit rücken die Mitarbeiter endlich stärker in das Zentrum des Interesses“. Seine Forderung, die Mitarbeiter stärker in den Fokus zu stellen (Stichwort: „Employee Experience“), teile ich ebenso wie seine Feststellung, dass dies noch nicht in ausreichendem Maße geschieht.
Der selbsterklärte „Provotainer“ legte seine Finger im weiteren Verlauf des Gesprächs noch stärker in die Wunde, indem er den Wettbewerb um die Fachkräfte mit dem um die Kunden vergleicht: Die verschärfte Situation am Arbeitsmarkt, so führt er aus, „ist für viele Verantwortliche sicher neu, bislang wurde der Wettbewerb ja vorrangig um Kunden geführt – wobei kein Unternehmen oder Unternehmensverband bis heute auf die krude Idee kam, vor einem drohenden Kundenmangel zu warnen. Tatsächlich zeigen sich die Unternehmen beim Ringen um die Kunden enorm professionell und kreativ. Genau diese Professionalität und Kreativität lassen sie aber bei der Gewinnung oder Bindung von Mitarbeitern bislang oft vermissen.“
Unternehmen verweisen oft auf Bildung und Politik – und nehmen sich dabei gerne selbst aus der Pflicht
Dem kann ich nur zustimmen. Tatsächlich wird Gaedts Befund – die mangelnde Professionalität und Kreativität bei der Gewinnung und Bindung von Mitarbeitern in vielen Unternehmen – von den weiteren Resultaten der Studie bestätigt. Ob man deshalb gleich den Fachkräftemangel als Mythos brandmarken muss, lasse ich dahingestellt. Klar aber ist: Larmoyanz gepaart mit Schuldzuweisungen hilft den Unternehmen in dieser Situation nicht weiter.
So verweisen viele Führungskräfte in der Studie auf den demografischen Wandel und auf das zu träge Bildungssystem als Hauptursachen für den Fachkräftemangel. Dagegen ist zunächst nichts einzuwenden. Allerdings vergessen die Manager dabei allzu oft, auch das eigene Unternehmen in die Pflicht zu nehmen.
Der Fachkräftemangel ist schließlich kein plötzlich auftretendes Naturereignis. Die Unternehmen haben vielfältige Möglichkeiten, um der verschärften Situation am Arbeitsmarkt entgegenzutreten – und sich im besten Fall so sogar noch vom Wettbewerb abzusetzen. Genau hier – also bei den Maßnahmen zur Begegnung des Fachkräftemangels – setzt der Hauptteil der Hays-Studie an, mehr dazu dann im nächsten Teil der Beitragsreihe.
Fazit: Mythos oder Realität ist nicht die Frage, die Personalpolitik muss neu justiert werden!
Zunächst bleibt festzuhalten: Die oft bemühte Diskussion, ob der Fachkräftemangel denn nun Mythos oder Realität sei, mündet letztlich nur in akademische Grabenkämpfe und hilft praktisch wenig weiter. Schließlich besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass sich die Situation am Arbeitsmarkt verschärft hat und sich dieser Trend zukünftig noch verstärken wird. Die Unternehmen tun gut daran, diese neuen Kräfteverhältnisse am Arbeitsmarkt anzuerkennen und entsprechende Anpassungsmaßnahmen zu ergreifen – anstatt sich allein darauf zu beschränken, die Verantwortung für die Misere der Bildung und Politik zuzuschieben.
Begleitend hierzu noch eine Aussage von Prof. Dr. Peter M. Wald, Professor für Personalmanagement an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig, der die eigentliche Misere beim Thema Fachkräftemangel im Expertengespräch zur Studie wunderbar auf den Punkt bringt:
„Fachkräftemangel wird heute von vielen Akteuren als Schlagwort benutzt, um politisch Druck auszuüben. […] Allerdings sollten sich die betroffenen Unternehmen zunächst selbst kritisch fragen, welchen Stellenwert das Thema Personal bei ihnen einnimmt. Hier ist aus meiner Sicht in den letzten Jahren viel zu wenig passiert, eine Professionalisierung der Personalarbeit ist dringend angezeigt.“
Die gesamte Serie zum Fachkräftemangel:
- Fachkräftemangel (1): Mythos oder reale Bedrohung?
- Fachkräftemangel (2): Mitarbeiterzentrisches Mindset gefragt
- Fachkräftemangel (3): HR braucht Digitalkompetenz!
Lesen Sie auch von Dr. Andreas Stiehler:
- Der Mythos vom Ende der Arbeit (1): Studien und Medienecho
- Der Mythos vom Ende der Arbeit (2): Einblicke in die Praxis
- Der Mythos vom Ende der Arbeit (3): Perspektive der Neurowissenschaften