Fachkräftemangel (2): Mitarbeiterzentrisches Mindset gefragt
Aktionismus und kreative Geistesblitze reichen dauerhaft nicht aus, um im Ringen um die Talente zu punkten. Denn die Entwicklung kreativer Ideen für die Rekrutierung und der Erfolg von Employer-Branding-Kampagnen setzen zunächst eine Bewerber- beziehungsweise Mitarbeiterzentrierung im Mindset der Personalverantwortlichen und in der Praxis der Unternehmen voraus.
In der mehrteiligen Beitragsreihe kommentiert Dr. Andreas Stiehler exklusiv für die Leser des QSC-Blogs Kernaussagen der Hays-Studie zum „Fachkräftemangel in Deutschland“. Für diese Studie, an der er als freiberuflich tätiger Analyst selbst mitwirkte, wurden 1.000 Führungskräfte in deutschen Unternehmen befragt und zahlreiche Expertengespräche geführt. Im Fokus dieses Beitrags stehen Strategien zur Begegnung des Fachkräftemangels.
Aktionismus hilft wenig dabei, dem Fachkräftemangel nachhaltig erfolgreich zu begegnen
„Active Sourcing“, „Employer Branding“, „Talent Experience Optimization“: Es mangelt nicht an neuen, (vermeintlich) innovativen Konzepten und gut gemeinten Ratschlägen, um dem Fachkräftemangel wirkungsvoll zu begegnen. Auch in der aktuellen Hays-Studie, insbesondere in den begleitenden Expertengesprächen, finden sich vielfältige Hinweise darauf, wie Unternehmen auf die verschärfte Situation am Arbeitsmarkt reagieren können.
Hinzu kommt eine wachsende Zahl an inspirierenden Beispielen für kreative Personalgewinnungsmaßnahmen, die im Internet kursieren – exemplarisch hierfür das mittlerweile deutschlandweit bekannte Video der Glaserei Sterz.
Also los, worauf warten wir!? Oder? Vielleicht lohnt es sich, an dieser Stelle noch einmal innezuhalten und das Thema grundsätzlich zu überdenken. Denn Aktionismus gepaart mit einem Schuss Kreativität auf Seiten der Personalverantwortlichen dürfte dauerhaft kaum ausreichen, um im Wettbewerb um die Talente erfolgreich zu punkten. Dies ist eine zentrale Botschaft aus den Expertengesprächen zur aktuellen Hays-Studie, die neben zahlreichen konkreten Hinweisen zur Begegnung des Fachkräftemangels auch einige grundlegende Anmerkungen enthalten.
[Anmerkung: Die vollständigen Interviews, auf die sich der nachfolgende Artikel bezieht, stehen auf der Website zur Studie kostenlos zum Download bereit.]
Kreative Ideen für die Rekrutierung erfordern zunächst eine kandidatenzentrierte Sicht
Martin Gaedt beispielsweise, Autor des Buchs „Mythos Fachkräftemangel“, wartete im Gespräch (wie auch in seinen Vorträgen) mit zahlreichen innovativen Beispielen für die Personalgewinnung auf, betont aber zugleich: „Kreative Ideen für die Rekrutierung der Fachkräfte fallen nicht vom Himmel.
Ihre Erarbeitung setzt voraus, dass man sich zunächst eingängig mit den potenziellen Kandidaten beschäftigt – also, um im Vertriebsjargon zu bleiben – zunächst den Kundenmarkt beziehungsweise die Zielgruppen gründlich analysiert.“ HR-Verantwortliche, so fügt Gaedt noch hinzu, verwenden heute viel Zeit und Energie darauf, eingehende Bewerbungen zu analysieren. Über Kandidaten, die bislang nicht beim Unternehmen vorstellig wurden, wüssten sie dagegen allzu oft nichts.
Gero Hesse, Experte für Employer Branding, HR Marketing und Rekrutierung, wird im Gespräch noch grundsätzlicher: „Die meisten Verantwortlichen für Personalmanagement und Rekrutierung“, so führt er aus, „wurden in einer Zeit sozialisiert und ausgebildet, in der es den Fachkräftemangel, wie wir ihn heute kennen, nicht gab. Entsprechend agieren sie häufig mit einem Handwerkszeug, das für Arbeitgeber-, aber nicht für Arbeitnehmermärkte ausgelegt ist.“ Der Geschäftsführer von TERRITORY EMBRACE plädiert schließlich für „eine kandidatenzentrierte Personalmarketingstrategie, bei der Sinn, Wertschätzung und Unternehmenskultur eine maßgebliche Rolle spielen.“
Nicht nur die Personalmanager, das gesamte Unternehmen ist gefordert
Ich kann Gero Hesses Forderung nach mehr Kandidatenzentrierung in der Personalarbeit und die damit verbundene Kritik an altbackenen HR-Verantwortlichen gut nachvollziehen, würde sie allerdings noch weiter fassen: Nicht nur die Personalmanager, sondern alle Führungskräfte und hierbei insbesondere das Top-Management sind vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels gefordert, den Stellenwert des Personals und der Personalarbeit zu überdenken und zu justieren.
So betont Wolfgang Brickwede, Director des Institute for Competitive Recruiting (ICR), im Gespräch: „Zunächst ist mir wichtig, dass die Rekrutierung aus der Kostenecke herauskommt, also Ausgaben für Recruiting nicht mehr als Kostenfaktor, sondern als strategische Investition begriffen werden.“ Ähnlich wie Martin Gaedt und Gero Hesse hält auch Wolfgang Brickwede ein „bewerberzentrisches Mindset“, das in vielen Unternehmen bislang noch nicht vorhanden sei, für zwingend notwendig.
Recruiting als Kostenfaktor?! Viele Unternehmen werden sich von Brickwedes Kritik zunächst nicht angesprochen fühlen, haben sie doch in den letzten Monaten bereits immense Summen in das Hype-Thema „Employer Branding“ investiert – und in diesem Rahmen hochwertige Image-Videos produziert sowie Präsenzen auf Facebook und Instagram auf- und ausgebaut. Aber reicht dies aus, um damit Kandidaten zu gewinnen und an das Unternehmen zu binden?! Nein! Zumindest dann nicht, wenn man ein „bewerber- oder mitarbeiterzentrisches Mindset“ dabei vermissen lässt.
„Employer Branding“ ohne gelebte Mitarbeiterzentrierung wirkt nicht
Professor Gunther Olesch, CHRO bei Phoenix Contact, wies im Expertengespräch auf dieses weitverbreitete Missverständnis beim Thema Employer Branding hin: „Viele Unternehmen meinen heute, sie investierten bereits in Employer Branding, betreiben aber tatsächlich Personalmarketing. Sie diskutieren über moderne Anzeigenformate und Internetauftritte – und damit letztlich über die Sicht, die das Unternehmen nach außen vermitteln will. Beim Employer Branding steht dagegen die Perspektive der Mitarbeitenden im Fokus.“
Dies leuchtet ein. Hinzuzufügen bleibt noch: Für ein mitarbeiterzentriertes „Employer Branding“ reicht es auch nicht aus, nur die Vorteile einer Anstellung im Unternehmen aus Sicht und in der Sprache der Bewerber zu bewerben. In Zeiten von kununu & Co wird eine solche Bewerbung der Unternehmen nur dann zum Erfolg führen, wenn die Marke authentisch ist und die Argumente von der bestehenden Belegschaft geteilt werden.
Professor Peter M. Wald, Professor für Personalmanagement an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig, bringt diesen Gedanke im Gespräch wunderbar auf den Punkt: „Was Unternehmen nach außen vermitteln wollen, müssen sie nach innen leben. Das ist ein sich selbst verstärkender Mechanismus: Wer als Unternehmen keine zufriedenen Mitarbeiter hat, wird auch bei der Rekrutierung nicht punkten können.“
Wirksame Medizin gegen Fachkräftemangel? Mitarbeiterzentrisches Mindset entwickeln und Zusammenarbeit mit Marketing und Vertrieb suchen!
Lassen Sie mich an dieser Stelle kurz zusammenfassen: Bevor sich die Verantwortlichen mit neuen Konzepten zur Begegnung des Fachkräftemangels (und damit einhergehenden Buzzwords) auseinandersetzen, sollten sie das eigene beziehungsweise das im Unternehmen vorherrschende Mindset kritisch hinterfragen: Stehen die Mitarbeiter und Bewerber tatsächlich im Zentrum der Aktivitäten – so wie auf bunten Präsentationen immer wieder suggeriert wird? Inwieweit ist deren Perspektive bei aktuellen Rekrutierungsmaßnahmen und Employer-Branding-Kampagnen berücksichtigt? Sind die Botschaften authentisch? Wird im Unternehmen gelebt, was nach außen beworben wird?
Ein „bewerber- und mitarbeiterzentrisches Mindset“ auf Seiten der Personalverantwortlichen und Unternehmen – so lernte ich aus den Expertengesprächen – ist schließlich das A und O, um neue Wege bei der Rekrutierung einzuschlagen und die Attraktivität als Arbeitgeber zu steigern. Diese Feststellung mag auf den ersten Blick trivial erscheinen, ist sie aber nicht. Die zum Teil ernüchternden Resultate der Hays-Studie ebenso wie die Einschätzungen der Experten unterstreichen, dass die meisten Unternehmen von der Umsetzung dieses Leitbilds noch weit entfernt sind.
Übrigens: Ausgehend von einem mitarbeiterzentrischen Mindset ist die Entwicklung und Umsetzung innovativer Konzepte zur Gewinnung und Bindung der Fachkräfte kein Hexenwerk. Das hierzu notwendige Wissen ist in vielen Unternehmen bereits vorhanden – nur eben bislang nicht bei den Personalmanagern, sondern zumeist in den Marketing- und Vertriebsabteilungen. Wie man die „Experience“ von Kandidaten“ nachhaltig verbessert, deren „Journey“ analysiert und durchgehend unterstützt, wie man die Kandidaten aktiv anspricht und individuell begleitet, wurde auf Kundenseite in den meisten Unternehmen bereits intensiv durchexerziert. Die Personalverantwortlichen müssen also das Rad nicht neu erfinden. Besser wäre es, das Gespräch mit Marketing und Vertrieb zu suchen.
Vor diesem Hintergrund empfehle ich Ihnen abschließend einen Blick auf das Experteninterview mit Uwe Rotermund – Geschäftsführer von noventum Consulting, einem Unternehmen, das als Botschafter für „Great Place to Work“ mehrfach als bester Arbeitgeber Deutschlands ausgezeichnet wurde. Im letzten Jahr startete noventum Consulting ein Projekt unter dem Titel „Employer Branding 2.0“.
„Im Zuge des Projektes, das gemeinsam von HR und Marketing gesteuert wurde,“ so erläutert Rotermund, „übertrugen wir moderne Marketingansätze wie das AIDA-Modell auf die Rekrutierung. Sprich: Wir analysierten die Candidate Journey und definierten über Design Thinking entsprechende Maßnahmen, um die Anwerbung geeigneter Kandidaten und deren Befähigung zu Fachkräften zu unterstützen.“
Das Projekt, das auf ein intelligentes Employer Branding hinwirkt, wurde bereits mit einem Marketingpreis geehrt. Der Erfolg des Gesamtvorhabens beruht aus Sicht des Unternehmers allerdings nicht allein auf der eloquenten Umsetzung moderner Marketingwerkzeuge, sondern auch und insbesondere auf einer „starken und vor allem authentischen Arbeitgebermarke.“
Die gesamte Serie zum Fachkräftemangel:
- Fachkräftemangel (1): Mythos oder reale Bedrohung?
- Fachkräftemangel (2): Mitarbeiterzentrisches Mindset gefragt
- Fachkräftemangel (3): HR braucht Digitalkompetenz!
Lesen Sie auch von Dr. Andreas Stiehler:
- Der Mythos vom Ende der Arbeit (1): Studien und Medienecho
- Der Mythos vom Ende der Arbeit (2): Einblicke in die Praxis
- Der Mythos vom Ende der Arbeit (3): Perspektive der Neurowissenschaften