Zwischenruf im Echoraum: Ende der Gewissheiten!?
Die Menschen sind der digitalen Evangelisten überdrüssig und stoßen bei der Umsetzung vermeintlicher Heilslehren zum digitalen Wandel auf immer neue Widersprüche. Wir beginnen zu ahnen, dass es Gewissheiten auf dem Weg ins digitale Zeitalter nicht gibt – und auch nicht geben kann. Aber wie gehen wir mit dieser Einsicht um? Eine Nachlese zu den „Zwischenrufen im Echoraum“ und weiteren Beiträgen für QSC-Blog 2019.
Bestandsaufnahme: Von digitalen Evangelisten zum Ende der Gewissheiten
„Je mehr ich weiß, desto mehr weiß ich, dass ich nichts weiß“ (Sokrates)
Unter der Überschrift „Zwischenruf im Echoraum“ kommentiere ich seit nunmehr fast drei Jahren für die Leser des QSC-Blogs regelmäßig aktuelle Webbeiträge zum digitalen Wandel. Eine wunderbare Aufgabe, die es mir erlaubt, meine Finger regelmäßig an den Puls der Zeit zu legen. Gleichzeitig zwingt sie mich dazu, das Thema aus immer neuen Blickwinkeln zu betrachten, dabei eigene Überzeugungen zu hinterfragen und so meinen Horizont zu erweitern. Einziges Manko: Je länger ich dieser Tätigkeit nachgehe, desto schwerer fällt es mir, mich als klassischer „Experte“ zu präsentieren beziehungsweise als solcher mit irgendwelchen Gewissheiten aufzuwarten.
Klar scheint mir heute nur eines: Wer als Unternehmen in dem sich dynamisch ändernden Umfeld an einem „Weiter so“ festhält, droht über kurz oder lang im digitalen Wettbewerb zurückzufallen. Mit dieser Einsicht bin ich freilich nicht allein: Dafür sorgte schon die Schar an digitalen Evangelisten, die während der letzten Jahre von vielen Unternehmen mit der Maßgabe engagiert wurden, die Belegschaften aufzurütteln oder – frei nach Kotter – „ein Gefühl der Dringlichkeit“ für die Notwendigkeit des Wandels herzustellen.
So weit, so gut – die Botschaft ist verstanden, wir sind der digitalen Evangelisten ebenso wie der „Digitalisierung“ als Schlagwort längst überdrüssig. Doch spätestens ab dieser Stelle wünschen wir Menschen uns Gewissheit darüber, wie der digitale Wandel zu gestalten ist und wohin er uns führt. Ungewissheit ist schließlich unangenehm, sie verunsichert und entfacht Ängste. Experten sollten her, die den Weg in die digitale Zukunft weisen – mit passgenauen Plänen und Erfolgsgarantie.
Der Ruf wurde erhört, die Beraterbranche hatte zuletzt Hochkonjunktur. Immer neue Konzepte wurden erdacht und mit verheißungsvollen Schlagwörtern – New Work, Holacracy, Agile etc. –angepriesen. Basierend darauf wurden nun allerorts digitale Initiativen gestartet. Doch die neuen Heilslehren erweisen sich in der Umsetzung weder als vollkommen noch als einfach realisierbar. Neue Widersprüche traten zu Tage, Zweifel werden laut und Ernüchterung macht sich breit. Wir beginnen zu ahnen, dass es Gewissheiten auf dem Weg ins digitale Zeitalter nicht gibt – ja, dass es diese in einem zunehmend komplexen Umfeld gar nicht geben kann und vielleicht noch nie gab.
Genau an dieser Stelle – also beim Ende der Gewissheiten – befindet sich nach meinem Dafürhalten die von mir begleitete Diskussion heute. Das „Ende der Gewissheiten“ bildet schließlich auch die gemeinsame Klammer für alle Beiträge, die ich im letzten Jahr für QSC-Blog kommentierte – und in den nachfolgenden Abschnitten kurz noch einmal Revue passieren lassen will.
Nachlese 2019 (I): Anzeichen für eine Trendumkehr
Der Zukunftsforscher Matthias Horx zum Beispiel wies in einem von mir zu Beginn des letzten Jahres kommentierten Interview unter dem Titel „Die Rückkehr des Analogen“ darauf hin, dass sich der Digitalisierungstrend nicht endlos linear fortschreiben lässt, sondern Gegenbewegungen auslöst. Seine Ausführungen nagen an der verbreiteten Gewissheit, dass ein „immer kürzer, schneller, schriller“ im digitalen Marketing zum Erfolg führt.
Tim Leberecht wiederum räumt mit der Gewissheit auf, dass sich Kunden allein durch effiziente Lösung von Problemen mit Einsatz von künstlicher Intelligenz und Automatisierung beglücken lassen. Er plädiert für eine „Renaissance der Romantik“ im Geschäftsleben und lädt in dem von mir kommentierten Beitrag dazu ein, Konventionen der digitalen Welt zu hinterfragen und Tabubrüche zu wagen.
Nachlese 2019 (II): Digitale Ent-Täuschung und Ent-Naivisierung
Und wie steht es mit der Gewissheit, dass im Zuge der Digitalisierung der Mensch (wieder) stärker in den Fokus rückt? Kritische Geister wie Frank Schabel, Inga Ketels oder Dr. Phil. Quarch laden an dieser Stelle zur „Digitalen Ent-Täuschung“ ein. Die Digitalisierung – so lernte ich aus ihren Beiträgen – droht an den Menschen vorbeizugehen und einzig das Wachstum zu befeuern. Erschöpfung, Vereinsamung und moderne Sklaverei statt Verbundenheit, Autonomie und schöner neuer Arbeitswelt wären die Folge, wenn uns die Umkehr nicht gelingt.
Immerhin die oft bemühte Drohkulisse vom „Ende der Arbeit“ erweist sich bei näherer Betrachtung als ein Mythos – wie von mir in einer dreiteiligen Beitragsserie diskutiert. Sowohl die aktuelle Studienlage als auch Erfahrungen aus der Praxis und Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften sprechen dagegen. Wem diese Überlegungen zu theoretisch sind, dem empfehle ich einen Besuch in einem nahezu durchgehend automatisierten und digitalisierten Kuhstall 4.0. Mein zweiteiliger Praxisbericht zu diesem Thema zeigt, dass ein „Ende der Arbeit“ hier noch lange nicht in Sicht ist, vielmehr sind die herkömmlichen Melker nun mit dem datengestützten Herdenmanagement befasst.
Nachlese 2019 (III): Ernüchterung in der agilen Bewegung
Mit einem „Ende der Gewissheiten“ ist derzeit auch die agile Bewegung konfrontiert. Hier wurde im letzten Jahr intensiv und kontrovers darüber diskutiert, warum agile Vorhaben vielfach nicht in Schwung kamen oder ganz scheiterten. Im Zentrum der Debatte: das „agile Mindset“.
Während es die einen wie André Claasen schmerzlich vermissen, halten es andere wie Peter Pröll für eine Mogelpackung und fordern stattdessen, sich stärker mit der Organisationsentwicklung zu beschäftigen.
Im Zuge dieser Diskussion um das Scheitern der agilen Prinzipien rückt Günther Wagner schließlich auch die Zerrissenheit der Manager ins Blickfeld – und plädiert (im übertragenen Sinne) für einen Gang der „Manager in den Ashram“. Schließlich seien die Führungskräfte gezwungen, bei der Umsetzung agiler Prinzipien eigene Gewissheiten im Hinblick auf den Status, die Bedeutung oder die Wirksamkeit ihrer Rolle aufzugeben. Dies erzeuge ganz natürlich Ängste – und in der Folge Widerstand und Schizophrenie: Nach außen werden Veränderungen bejaht und gepredigt, im tiefsten Inneren aber abgelehnt.
Nachlese 2019 (IV): Auflösung der funktionalen Rollen & Rollentausch beim Digital Workplace
Doch nicht nur die Manager, sondern alle Mitarbeiter sind dazu angehalten, Gewissheiten in Hinblick auf die zugeschriebenen funktionalen Rollen in den Unternehmen zu hinterfragen. Dies ist die Essenz eines lesenswerten Beitrags von Conny Dethloff, der als Konsequenz aus diesen Überlegungen seither auf die übliche Rollenzuschreibung verzichtet und sich nur noch als „Mensch“ präsentiert.
Vielleicht nimmt ja der eine oder andere Personaler diese Diskussion zum Anlass, dem Beispiel von Conny Dethloff zu folgen, dem Digital Workplace würde dies guttun. Denn zu den eingeschliffenen Gewissheiten in Bezug auf funktionale Rollen zählt auch, dass sich die IT um Digitalisierung der Arbeitsumgebung und HR (allein) um die Menschen kümmert. Tatsächlich aber scheint beim Digital Workplace ein Rollentausch notwendig, als dessen Ergebnis „Personaler als Regisseure“ agieren.
Apropos „Gewissheiten“ und „Digital Workplace“: Wer heute meint, mit Office 365 sei nun endlich ein Standard für den Digital Workplace gefunden, der die Wünsche aller Mitarbeiter rund um den modernen Arbeitsplatz erfüllt und das Thema damit als abgehakt betrachtet, der unterschätzt meines Erachtens die Komplexität in diesem Feld und die Dynamik im Technologiemarkt.
Nachlese 2019 (V): Wie weiter in einer Welt ohne Gewissheiten?
Aber wie agieren wir in einer Welt, in der alle unsere Glaubenssätze in Frage stehen oder gestellt werden? Zunächst und zuvorderst – glaube ich – sollten wir uns ehrlich machen und bekennen, dass es keine Patentrezepte gibt, die mit Gewissheit zum Erfolg führen. Selbst die als Beweis für die Gültigkeit der Heilsversprechen oft angeführten Leuchttürme der Digitalisierung erweisen sich bei genauerer Betrachtung über kurz oder lang als Irrlichter.
[Irreführend sind übrigens auch die „Scheingefechte um Generation Y“. Die in der regelmäßig aufflammenden Generationendebatte bemühten Stereotype sind wissenschaftlich nicht haltbar. Punkt.]
Gleichwohl sollten wir den Kopf nicht in den Sand stecken und/oder jeder neuen Idee mit Sarkasmus à la „Das hatten wir alles schon“ begegnen. Selbst die heute so verschrienen Managementmoden – so lernte ich in einem wunderbaren Aufsatz von Klaus Eidenschink – sind per se nichts Verwerfliches. Im Gegenteil: Sie helfen dabei, festgefahrene Systeme wirksam zu irritieren und Innovationen in den Unternehmen voranzutreiben. Allerdings – so lernte ich weiter – sind schädliche Nebenwirkungen und ein Verlust an Glaubwürdigkeit vorprogrammiert, wenn Managementprinzipien oder -methoden als Religion verkündet und mit Heilsversprechen verbunden werden.
Weiterhin werden wir nicht umhinkommen, uns ein Stück weit von unserem mechanischen Denken zu lösen und zu akzeptieren, dass die Welt nicht eindeutig vorhersehbar ist und es nicht für jedes Problem nur eine gültige Lösung gibt. Dies wiederum lernte ich aus einem beeindruckenden Vortrag zu den „Folgerungen aus der Chaostheorie“ von PD Dr. Peter Strunk.
Schließlich (und trotz alledem) sollten wir optimistisch bleiben: Komplexität ist nicht gleich Chaos, lautet eine der Kernbotschaften der Wirtschaftsnobelpreisträgerin Elinor Ostrom. Entgegen der Meinung vieler Politiker, Unternehmenslenker und Wirtschaftswissenschaftler sind die Menschen durchaus in der Lage, in einer selbstorganisierten Gemeinschaft komplexe Probleme zu lösen. Hierzu bedarf es freilich Regeln und Konfliktlösungsmechanismen – und es gibt keine Patentrezepte. Das Werk von Elinor Ostrom, das an den Gewissheiten der orthodoxen Wirtschaftswissenschaften nagt, erscheint heute aktueller denn je.
Danksagung und Ausblick
Damit bin ich am Schluss meiner Nachlese 2019 angelangt – die beste Gelegenheit für ein Dankeschön an alle Querdenker, deren Beiträge mich im letzten Jahr zum Hinterfragen vermeintlicher Gewissheiten im digitalen Wandel inspirierten.
Bedanken möchte ich mich auch bei den Verantwortlichen des QSC-Blogs – schon allein dafür, dass sie mich haben machen lassen, auch wenn meine Meinung bzw. die der von mir angeführten Querdenker nicht immer wortgenau der des Unternehmens entspricht. Als unabhängiger Autor fühle ich mich hier bestens aufgehoben, auch weil ich glaube: Wer als Dienstleister den Mittelstand bei der Digitalisierung effektiv unterstützen will, der sollte eine offene und kontroverse Diskussion zu den Herausforderungen und Folgen der Digitalisierung fordern und fördern.
Und wie geht es weiter? Zunächst freue ich mich darüber, dass die Zusammenarbeit mit QSC-Blog im kommenden Jahr fortgesetzt wird. Welche Themen dann in den Fokus rücken, kann ich heute freilich nicht mit Gewissheit sagen. Wer weiß schon genau, wohin die Debatte in den nächsten Monaten driftet. Und das ist ja auch gut so! Das „Ende der Gewissheiten“ mag zwar in vielerlei Hinsicht verunsichern, gleichwohl hält uns die Ungewissheit lebendig und beweglich.
Abschließend und passend dazu noch ein paar wunderbare Zeilen aus Hermann Hesses Gedicht „Stufen“:
Damit möchte ich mich schließlich bei allen Lesern und Kommentatoren meiner Beiträge für QSC-Blog bedanken. Ich freue mich auf viele spannende und bereichernde Diskussionen mit Ihnen im Jahr 2020!
Weitere Informationen:
Stiehlers „Zwischenruf im Echoraum“ 2018
Stiehlers „Zwischenruf im Echoraum“ 2017